ADHS galt lange als klassische Kinderkrankheit. Ärzte gingen davon aus, dass sie sich nach der Pubertät auswachsen würde. Doch seit ein paar Jahren stellen Psychiater die ADHS-Diagnose immer öfter auch bei Erwachsenen.
So auch bei Barbara Wohlfarth. Während des Studiums hatte die 40-Jährige aus Affoltern am Albis ZH immer wieder Probleme. «Das stundenlange Lernen fiel mir schwer», erinnert sie sich. «Ich war mit den Gedanken immer bei anderen Sachen.» Ein Psychiater stellte bei ihr die Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) fest und verschrieb ihr Ritalin.
Abgabe von ADHS-Medikamenten um 70 Prozent zugenommen
Die Zahl der erwachsenen Patienten mit ADHS-Diagnose stieg gemäss dem Bundesamt für Statistik in psychiatrischen Kliniken der Schweiz in den letzten zehn Jahren von rund 1200 auf fast 5000. Die Zahl der ambulanten Patienten ist unbekannt. Gleichzeitig nahm der Verbrauch von ADHS-Medikamenten wie Ritalin, Concerta oder Elvanse bei Erwachsenen um 70 Prozent zu. Das ergab eine Studie der Krankenkasse Helsana. Als Gründe dafür vermutet Helsana ein «gesteigertes Bewusstsein» für ADHS, aber auch die Zulassung von neuen Medikamenten für Erwachsene.
Der Psychiatrieforscher Michael Pascal Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften kritisiert, Ärzte würden ADHS zu oft diagnostizieren. Anzeichen wie Gereiztheit, Unruhe und Konzentrationsprobleme könnten auch durch schwierige Lebensphasen verursacht werden – zum Beispiel durch Stress am Arbeitsplatz oder durch die Elternschaft.
«ADHS-Markt» bei Kindern ist gesättigt
Das kanadische Fachmagazin «Therapeutics Letter» kam vor einem Jahr zum Schluss, eine seriöse Diagnose sei sehr aufwendig. Psychiater würden dafür eine umfangreiche Dokumentation der Familiengeschichte benötigen. Es genüge nicht, Patienten einen Fragebogen ausfüllen zu lassen.
Und die Psychiaterin Joanna Moncrieff vom University College London schrieb im «British Medical Journal», die Zunahme der ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen sei ein Versuch, gewöhnliche Alltagsprobleme als Krankheit darzustellen, um den Verkauf von Medikamenten anzukurbeln.
Auch Hengartner sagt, Erwachsene seien eine lukrative Zielgruppe für Pharmafirmen, weil der Markt bei Kindern gesättigt sei. Allerdings würden die Medikamente bei Erwachsenen «deutlich weniger gut» wirken.
Eine Übersichtsstudie des Cochrane-Netzwerks mit 5000 Erwachsenen kam zum Schluss, der Nutzen von Mitteln wie Ritalin und Concerta sei zweifelhaft. Sie könnten die Lebensqualität kaum verbessern, hätten aber schwere Nebenwirkungen. Die Hersteller Novartis und Takeda sagen dazu, Swissmedic habe bestätigt, dass ihre Medikamente Ritalin und Elvanse wirksam und sicher seien. Salmon Pharma schreibt, die Patienten würden unterschiedlich auf ADHS-Medikamente reagieren.
Einige Patienten könnten davon «erheblich» profitieren. Auch kleine Verbesserungen seien wichtig. Barbara Wohlfarth nimmt heute nur noch ab und zu Ritalin. Sie sagt, sie habe gelernt, mit ADHS umzugehen, und sehe auch dessen positive Seiten: «Wenn mich ein Thema begeistert, bin ich sehr kreativ und leistungsfähig.»
ADHS: Das können Sie tun
- Lassen Sie sich von einem Psychiater oder Psychologen untersuchen.
- Machen Sie eine Psychotherapie. Studien beweisen den Nutzen der kognitiven Verhaltenstherapie.
- Falls Sie Probleme am Arbeitsplatz haben: Sprechen Sie mit Ihrem Vorgesetzten, aber erwähnen Sie ADHS nicht. Sie müssen dem Arbeitgeber keine Diagnosen angeben.
- Wenn Sie Mühe haben, sich zu konzentrieren: Schalten Sie das Telefon stumm, stellen Sie den Schreibtisch weg vom Fenster.
- Verbessern Sie Ihr Zeitmanagement: Erledigen Sie dringliche und wichtige Aufgaben zuerst, andere später.