Die Frau ist Ende Dreissig. Sie ist überzeugt, dass die lieblose Beziehung zu ihrem Mann für ihren Lymphknotenkrebs mitverantwortlich ist. Eine Fotoreporterin aus dem Kanton Zürich Mitte 40 erklärt den Tumor in ihrer Brust damit, dass sie sich stets nur mit «negativen Dingen» beschäftigt habe. Und ein gut 50-jähriger Mann aus Basel ist sicher, dass ihn seine schwere Kindheit für Krebs anfällig macht.
Diese Personen sind nicht die einzigen, die einen Zusammenhang sehen zwischen der Psyche und der Gefahr, an Krebs zu erkranken. In einer repräsentativen Umfrage des Deutschen Krebsforschungszentrums stimmten 61 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Stress und psychische Belastungen Krebs auslösen können. Lange glaubten sogar Psychiater und Psychologen an die Existenz von «Krebspersönlichkeiten»: Menschen mit depressiven Zügen, die oft Ärger und Wut unterdrückten, würden vermehrt zu Krebs neigen.
Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Stress und Krebsrisiko
Judith Alder, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Psychoonkologie und Privatdozentin an der Uni Basel, widerspricht klar: «Stress und psychische Belastungen tragen nach heutigem Wissen nicht zur Entstehung von Krebs bei.» Es gebe keine «Krebspersönlichkeiten». Psychoonkologen sind spezialisiert auf die psychologische Betreuung von Krebspatienten. Auch Thomas Cerny, Präsident von Krebsforschung Schweiz, sagt: «Tumore lassen sich nicht mit psychischen Auffälligkeiten erklären.»
2004 untersuchten holländische Forscher 70 einschlägige Studien: Keine belegte, dass psychische Faktoren einen Effekt auf die Krankheit hatten. Im Jahr 2013 werteten Forscher aus mehreren EU-Ländern ein Dutzend Studien mit 116 000 Teilnehmern aus Finnland, Frankreich, Holland, Schweden, Dänemark und Grossbritannien aus. Sie fanden keinen Zusammenhang zwischen Arbeitsstress und Krebsrisiko.
Psychische Belastungen können das Krebsrisiko allenfalls indirekt erhöhen. Etwa, wenn die Betroffenen wegen Stress mehr rauchen, zu viel essen oder übermässig Alkohol trinken. Klar ist auch: Ältere Leute erkranken häufiger als jüngere. Im Einzelfall lässt sich die Ursache aber meist nicht herausfinden.
«Es ist schwer zu akzeptieren, dass man einfach Pech hatte»
Laut Krebsforscher Cerny stellen sich fast alle Betroffenen die Frage: Warum gerade ich? Psychoonkologin Judith Alder erkennt in psychischen Erklärungen den Wunsch, klare Ursachen für eine oft unerklärliche Krankheit zu benennen: «Es ist schwer zu akzeptieren, dass man einfach Pech hatte.» Genauso hartnäckig hält sich der Glauben, dass die richtige Einstellung zur Heilung von Krebs beitrage. Renata S. aus Luzern bekam vor 18 Jahren die Diagnose Brustkrebs. Bekannte rieten der damals 39-Jährigen: Ändere dein Leben. Denke positiv. Sie aber konnte mit den Ratschlägen nichts anfangen und lebte weiter wie bisher. Dass sie heute noch lebe, erklärt die 57-Jährige mit «Glück».
Gemäss Judith Alder gibt es keine wissenschaftlichen Belege, dass Gedanken Krebszellen verändern könnten. Der Zwang zum positiven Denken könne sogar dazu beitragen, dass Patienten durch Krebs ausgelöste Gefühle wie Trauer, Wut oder Todesangst unterdrückten. Das erhöht laut Experten das Risiko, dass sie sich nicht angemessen medizinisch behandeln lassen.
Jedes Jahr sterben 16 400 Menschen an Krebs
Rund 40 000 Personen in der Schweiz erkranken jedes Jahr neu an Krebs. Die Hälfte davon haben Tumore an Prostata, Brust, Darm und Lunge. Jährlich sterben 16 400 Patienten an der Krankheit – nach Herz-Kreislauf-Krankheiten ist Krebs die zweithäufigste Todesursache überhaupt. Das entspricht 31 Prozent aller Todesfälle bei Männern und 22 Prozent bei Frauen. Bei Männern im Alter von 48 bis 79 Jahren und bei Frauen zwischen 37 und
79 Jahren ist Krebs sogar die häufigste Todesursache. Bei allen Formen von Krebs beginnen sich Zellen ungebremst zu teilen und so zu vermehren.