Roman Boller und Thomas Steffen fliegen für die Swiss auf der Langstrecke: Steffen als Captain auf dem Airbus A330, Boller als First Officer auf der Boeing 777. Als Vertreter des Schweizer Pilotenverbands Aeropers sprechen sie über ein Problem, das viele Passagiere verunsichern dürfte – über die Müdigkeit als Dauerbegleiterin vieler Piloten.
«Sekundenschlaf im Cockpit ist ein bekanntes Phänomen», sagt Steffen. Man sei als Pilot oft zu Zeiten unterwegs, in denen der Biorhythmus nach Schlaf verlange. «Auf einem neunstündigen Flug von Mumbai in Indien nach Zürich zwischen 21 und 6 Uhr Schweizer Zeit muss man sich schon ziemlich durchbeissen.» Roman Boller stimmt zu: «Besonders auf langen Nachtflügen gibt es monotone Phasen. Dann ist die Gefahr von grosser Müdigkeit deutlich erhöht.»
Diese Aussagen sind nicht übertrieben, wie eine Studie der europäischen Pilotenvereinigung ECA vom letzten Sommer zeigt. Sie basiert auf einer Befragung von 7000 Piloten aus ganz Europa, davon knapp 700 aus der Schweiz. Einige Resultate:
Drei von vier Piloten erlebten in den vier Wochen vor der Befragung mindestens einmal einen Sekundenschlaf beim Fliegen. Ein Viertel erlebte gar fünf oder mehr solche Situationen.
Fast drei Viertel der Piloten gaben an, sie könnten sich zwischen ihren Einsätzen nicht ausreichend erholen.
Mehr als die Hälfte kritisierte, ihre Airline nehme das Müdigkeitsproblem nicht ernst und unternehme zu wenig dagegen.
Es gab schon Vorfälle, in denen gleich beide Piloten im Cockpit wegdämmerten. So konnte die Flugsicherung in Marseille (F) im Mai 2022 die beiden Piloten einer Maschine der italienischen ITA Airways etwa zehn Minuten lang nicht erreichen. Italienische Zeitungen berichteten später, beide Piloten des aus New York kommenden Flugs hätten geschlafen. Sie erwachten, kurz bevor die Behörden zwei Kampfjets losschickten.
Piloten verschlafen Landung auf dem Flughafen
Ähnliches geschah im August 2022, als zwei Piloten der Ethiopian Airlines die Landung in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba buchstäblich verschliefen. Von einem Warnsignal des Autopiloten geweckt, landeten sie nach einer Umkehrschlaufe mit 25 Minuten Verspätung.
Ein Flugzeug stürzt nicht gleich ab, wenn die Piloten vom Schlaf übermannt werden. «Kontrolliert vom Autopiloten würde die Maschine auf Reiseflughöhe den Zielflughafen ansteuern und dort in einer Warteschlaufe oder auf dem aktuellen Kurs weiterfliegen, bis der Treibstoff ausgeht», sagt Steffen. Aber ein Cockpit «ausser Betrieb» sei schon sehr gefährlich: «Kommt es zu unerwarteten Ereignissen wie etwa zu heftigen Turbulenzen, zu einem plötzlichen Druckabfall oder zu einer Kollisionsgefahr, muss man sofort handeln. Eine verzögerte Reaktion könnte fatale Folgen haben.»
Tatsächlich rettet rasches Handeln Leben. Das zeigte eine Recherche der «New York Times» vom letzten August. Sie deckte zahlreiche Beinahekollisionen von Flugzeugen in der Luft und am Boden auf, die nur dank blitzschnell reagierenden Piloten nicht zur Katastrophe geführt hatten. Der Zeitung zufolge gab es seit Anfang 2022 allein in den USA rund 300 Beinahe-Kollisionen. Auch in der Schweiz kommt es immer wieder zu solchen Vorfällen, wie Berichte der Sicherheitsuntersuchungsstelle zeigen (saldo 4/2022, «K-Tipp» 19/2022).
Faktoren wie die Zeitverschiebung, das Hin und Her zwischen Tages- und Nachtflügen sowie die Wechsel von Monotonie- und Stressphasen können die biologische Uhr der Piloten empfindlich stören. Problematische Dienstpläne tragen ebenfalls zur Müdigkeit im Cockpit bei – auch auf der Kurzstrecke.
Thomas Steffen nennt ein Beispiel: «Wenn man an fünf Tagen in Folge täglich zwei bis vier Flüge macht, an den ersten vier Tagen sehr früh aufstehen muss und der letzte Flug am fünften Tag spätabends stattfindet, stösst man schon an seine Grenzen.»
Auch auf der Langstrecke sehen Dienstpläne laut Steffen etwa vor, fünfmal pro Monat nach New York, Boston oder Chicago zu fliegen. Früher hatten Piloten nach solchen Flügen meistens drei Tage frei, heute nur noch zwei. «Da ist es schwer, sich richtig zu erholen, zumal die Rückflüge fast immer nachts stattfinden.»
Airlines lobbyierten gegen Vorschriften für Ruhezeiten
Die maximalen Einsatzzeiten des Flugpersonals sind von der Europäischen Agentur für Flugsicherheit vorgegeben. Sie stützen sich auf eine EU-Verordnung und gelten auch in der Schweiz. Doch bei der Ausarbeitung dieser Vorschriften vor rund 15 Jahren lobbyierten die Fluggesellschaften laut Steffen und Boller erfolgreich gegen Dienst- und Ruhezeiten, welche die Flugsicherheit gesteigert, aber die Personalkosten verteuert hätten.
Beide Piloten anerkennen zwar, dass die von Aeropers mit Swiss und Edelweiss ausgehandelten Cockpit-Gesamtarbeitsverträge die Piloten besser schützen als die europäische Regelung. «Die Verträge lassen aber noch immer ziemlich viel zu», sagt Boller. Die Swiss widerspricht: «Die gesetzlichen Vorgaben, freien Tage nach Flugeinsätzen sowie Ferien stellen sicher, dass die nötige Erholung gegeben ist.» Laut Sprecher Michael Pelzer stellt die Swiss «gegenwärtig keinen Handlungsbedarf in diesem Bereich fest». Auch das Bundesamt für Zivilluftfahrt sieht als Aufsichtsbehörde «aktuell keinen Handlungsbedarf».
Roman Boller und Thomas Steffen sehen das anders: «Es braucht in Europa unbedingt restriktivere Dienst- und längere Ruhezeiten. Denn gut erholte Piloten sind entscheidend für die Sicherheit der Passagiere.»
Übermüdung: Trotz Warnungen passiert nichts
Wie die meisten Airlines hat auch die Swiss eine interne Anlaufstelle, bei der Piloten Vorfälle wie Sekundenschlaf im Cockpit melden können. Doch laut Roman Boller und Thomas Steffen vom Pilotenverband Aeropers «schreiben Piloten Rapporte und machen Verbesserungsvorschläge – doch es passiert einfach nichts».
Oft betreffe es die gleichen Destinationen, darunter Miami (USA). Von dort dauert der Rückflug nachts über neun Stunden: Piloten rapportieren immer wieder Müdigkeit und schlagen vor, entweder mit drei statt nur mit zwei Piloten zu fliegen oder die Aufenthalts- und damit die Ruhezeit am Zielort zu verlängern. Bislang vergeblich.
Die Swiss sagt dazu: «Wir nehmen Meldungen zu Müdigkeit im Cockpit sehr ernst.» Eine Arbeitsgruppe, in der auch Aeropers mitwirke, prüfe die Risiken genau und empfehle gegebenenfalls Anpassungen in der Einsatzplanung.
In der Studie der europäischen Pilotenvereinigung ECA erteilen die Piloten den Meldesystemen der Airlines schlechte Noten.
In der Schweiz gaben 22 Prozent und europaweit gar nur 11 Prozent der befragten Piloten an, dass ihre Rapporte Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit ausgelöst hätten.