Feuchter Dunst waberte durch die tiefer liegenden Strassenzüge und legte sich wie Rauch über die Hausdächer.» Dieses Bild bot sich dem englischen Schriftsteller Graham Greene, als er sich Mitte der 1930er-Jahre per Boot der Stadt Freetown näherte. Hinter dem hügeligen Ort mit einigen 100 000 Einwohnern an der afrikanischen Atlantikküste ragten dicht bewaldete Bergkegel bis zu 1000 Meter in die Höhe. Greene war als Journalist unterwegs. Seine Erlebnisse hat er später im Buch «Der Weg nach Afrika» packend geschildert.
Heute herrscht im Zentrum der 1,5 Millonen Einwohner zählenden Stadt ein buntes und lärmiges Durcheinander. In den engen und steilen Strassen drängen sich Menschenmassen. Dazwischen bewegen sich die wenigen Autos im Zeitlupentempo vorwärts – zusammen mit Heerscharen fliegender Händler sowie Ziegen, Hühnern und streunenden Hunden auf Nahrungssuche.
Ärmere Einwohner kaufen Reis auf dem Markt in Bechern
Wer diesem Durcheinander gewachsen ist, stört sich wenig daran, dass die klapprigen Sammeltaxis mit bis zu sechs Personen besetzt sind. Einzeltaxis heissen «Cha cha», das steht für «Charter».
«Was kostet eine Stadtfahrt über 5 Kilometer?» Der Chauffeur versteht die Frage nicht. Kein Wunder, in Freetown hats ständig Verkehrsstaus. Deshalb sind Kilometerangaben ungebräuchlich. Und wie lange das Taxi bis zum Ziel braucht, ist kaum vorauszusagen. Kunden mieten ein Taxi stundenweise oder gleich für den ganzen Tag. Der Tarif liegt bei umgerechnet gut 4 Franken pro Stunde. Ein Tag kostet in der Regel zehnmal so viel.
Doch weisse Ausländer können so gut wie nie mit diesen Tarifen rechnen. Es empfiehlt sich, mit dem Chauffeur zu verhandeln. Dabei wird schnell klar, dass Feilschen zum guten Ton gehört, ja geradezu erwartet wird. Das gilt auch an den Marktständen. Allgegenwärtig ist dort Reis. Er fehlt bei keiner Mahlzeit. Ärmere Einwohner, die sich als Tagelöhner verdingen, kaufen ihn in «Cups». Die Metallbecher fassen 150 Gramm.
Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs kletterten im Durchschnitt um 30 bis 40 Prozent, als sich 2014 die Ebola-Krise zuspitzte. Weil sich viele verängstigte Bauern in den besonders heimgesuchten Reisanbaugebieten nicht mehr um die Ernte kümmerten, schnellte der Preis für einen 50-Kilo-Sack innert weniger Monate von umgerechnet knapp 19 auf rund 30 Franken. Inzwischen hat er sich wieder auf dem alten Niveau eingependelt.
In den Geschäften gelten Festpreise. Meist handelt es sich um kleinere Supermärkte im Besitz libanesischer Kaufleute. Die ausschliesslich aus europäischen und arabischen Ländern importierten Waren kosten zwei- bis viermal so viel wie in den Herkunftsländern. Das erklärt den exorbitant hohen Preis für WC-Papier.
Verpackte Kaffeebohnen sind nur hin und wieder erhältlich. Ausländischer Kaffee ist mehr als zwölfmal so teuer wie einheimischer. Den Bewohnern von Sierra Leone dürfte das egal sein, sie stehen auf Instantkaffee.
Eine bescheidene Mehrzimmerwohnung am Stadtrand kostet monatlich rund 90 Franken Miete, oft ohne fliessendes Wasser. Die billigsten Unterkünfte finden sich in wilden Siedlungen. Sie sind nicht ans Strassen-, Energie- und Wasserversorgungsnetz angeschlossen.
Ausländer, die für Unternehmen, private Hilfswerke oder die Uno arbeiten, zahlen für eine Wohnung mit fliessendem Wasser und Wächter mindestens 420 Franken pro Monat. Ausländer heissen bei Einheimischen «Expats».
Was verdient ein Arzt im Spital? Solche Infos gibts nur auf Umwegen
Der Lohn ist Privatsache. Die Menschen sagen nicht, was sie verdienen. Was tun? Anhaltspunkte könnte eine Internetrecherche geben. Oder Stelleninserate, in denen der Arbeitgeber den Jahreslohn angibt. In Freetown jedoch lassen sich keine verlässlichen Angaben finden.
Die Lösung heisst Expats. Sie haben Zugang zu Einheimischen und besorgen die gewünschten Infos: Handwerker, Zimmerleute oder Maurer etwa, werden nicht monatlich, sondern für einzelne Aufträge bezahlt. Läuft das Geschäft, rollt nach vollendeter Arbeit auch der Leone, die örtliche Währung. Bei Flaute greifen die Einwohner auf das Ersparte zurück und suchen eine neue Beschäftigung. Das vereinbarte Honorar erhalten sie stets bar auf die Hand. Über ein Bankkonto verfügt nur eine Minderheit.
Wer Freetown besucht, muss Bargeld mitbringen. Kreditkarten akzeptieren nur wenige Hotels. Und Geldautomaten gibt es fast keine.
Vor kurzem hat die Regierung den Mindestlohn auf gut 100 Franken angehoben. Doch das ist Theorie. Angestellte in einem Hotel erhalten im Durchschnitt in etwa diesen Betrag, doch Verkäuferinnen in einem privaten Supermarkt nur die Hälfte.
Dank Beziehungen gelingt es einem Expat, über einen Angestellten im Gesundheitsministerium das Salär für einen Arzt im Staatsdienst herauszufinden: 1260 Franken im Monat. Doch diese Zahl ist mit Vorsicht zu geniessen. Denn das lukrative Geschäft beginnt erst zu Hause – in der eigenen Praxis. Kaum verwunderlich bei landesweit gut 130 Ärzten auf 6 Millionen Einwohner.
Sierra Leone: Krise durch Rohstoff-Preiszerfall und Ebola
Der Staat Sierra Leone ist seit 1961 unabhängig.
Die ehemalige britische Kolonie ist flächenmässig knapp doppelt so gross wie die Schweiz, zählt aber nur etwa 6 Millionen Einwohner. 60 Prozent sind Muslims, 30 Prozent Christen und 10 Prozent Anhänger von Naturreligionen. Bis 2002 herrschte Bürgerkrieg. Er kostete Hunderttausende das Leben und zerstörte grosse Teile der Infrastruktur wie Strassen und Elektrizitätswerke.
Seit 2012 verzeichnet Sierra Leone vor allem dank Eisenerzexporten beim Bruttoinlandprodukt zweistellige Steigerungsraten. Doch der Rohstoff-Preiszerfall und die Folgen der Ebola-Epidemie veranlassten die Weltbank kürzlich, das prognostizierte Wachstum fürs laufende Jahr von 11,3 Prozent auf minus 2 Prozent zu reduzieren. Für den Eigenbedarf werden Kaffee, Kakao und Reis angebaut. An den Küsten ist der Fischfang von Bedeutung.