Wer die IV betrüge, «soll ins Gefängnis wandern, und zwar unbedingt. Man sollte Privatleuten Prämien bezahlen, wenn sie einen IV-Betrüger anzeigen und er überführt wird.» So kommentierte Mitte Mai ein Thomas F. im Internet einen Artikel im «Tages-Anzeiger» mit dem Titel: «Sozialdetektive decken jeden vierten IV-Betrug auf.»
An diesem Titel ist jedes Wort falsch. Erstens ging es im Artikel um Versicherungsdetektive. Sozialdetektive wären im Auftrag der Sozialämter für die Aufdeckung von Fürsorgebetrügereien zuständig. Zweitens nennt die IV keinen einzigen Fall von Betrug. Die IV-Stellen konnten nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr 630 Versicherte eines Missbrauchs von Versicherungsleistungen überführen. Bei 170 Fällen davon habe die IV eine Überwachung durch einen Detektiv angeordnet. Lediglich bei 20 Fällen geht das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) von einem Betrug aus. Kein einziger Versicherter wurde bisher verurteilt.
Versicherungsmissbrauch und Betrug sind nicht dasselbe. Betrug bedeutet, dass ein Versicherter zum Beispiel seinen Arzt täuscht, damit er ein falsches Zeugnis ausstellt. Oder einen Unfall inszeniert. Von einem Versicherungsmissbrauch spricht das Bundesamt, «wenn eine versicherte Person Leistungen zugesprochen erhält, auf die sie keinen Anspruch hat». Ein häufiger Grund sei «die Verletzung der Meldepflicht». Oder weil jemand «nicht vorsätzlich» Angaben bei der Abklärung des Leistungsanspruchs unterliess.
Bewusst die Diskussion in der Öffentlichkeit angeheizt
Das Bundesamt für Sozialversicherungen ist an der falschen Berichterstattung mitschuldig. Lang sprach es selbst von «Betrug». Noch vor drei Jahren sagte Sprecher Harald Sohns der Juristenzeitschrift «Plädoyer»: «Wir haben bis jetzt für Missbrauch keinen besseren Begriff gefunden.»
Das BSV gibt an, keine Statistik über verurteilte Sozialversicherungsbetrüger zu führen. Das Gleiche sagen die Suva, die Konferenz der Staatsanwälte, das Bundesamt für Justiz und das Bundesamt für Statistik.
Kurt Pärli, Rechtsprofessor an der Uni Basel, vermutet «ein gewolltes Desinteresse». Das Bundesamt für Sozialversicherungen, die IV-Stellen und die Suva wollten allenfalls gar keine Transparenz. «Sie möchten vielmehr, dass in den Medien und in der Bevölkerung über Missbrauch diskutiert wird. Die angebliche Notwendigkeit von Versicherungsdetektiven lässt sich so besser verkaufen.»
Das Lobbyieren der Sozialversicherungen im Parlament trug Früchte: Die Mehrheit der National- und Ständeräte erliess im März ein Gesetz, das Mitarbeitern von Sozialversicherungen mehr Kompetenzen gibt als der Polizei und dem Geheimdienst (siehe unten). Sie dürfen Verdächtige abhören, filmen und mit richterlicher Erlaubnis ihre Autos mit einem GPS-Tracker versehen.
Für Überwachungen gibt es die Justiz und die Polizei
Mit dem Gesetz würden alle, die eine Leistung beantragen – sei es wegen Unfall, Krankheit oder Arbeitslosigkeit – unter Generalverdacht gestellt. In einem Schreiben ans Parlament sprachen sich die Rechtsprofessoren Anne-Sylvie Dupont, Thomas Gächter, Kurt Pärli und Markus Schefer gegen das Gesetz aus («K-Tipp» 8/2018). Sie fordern: «Es ist so weit wie möglich zu verhindern, dass unschuldige Bezüger in ihrem Privatleben ausspioniert werden.» Die Suva hat nach eigenen Angaben innert acht Jahren total 111 Observationen angeordnet. Bei rund einem Drittel habe sich der Anfangsverdacht nicht bestätigt. Das erklärte Suva-Chefjurist Franz Erni im Juristenmagazin «Plädoyer».
Eine saldo-Auswertung von BSV-Unterlagen ergibt: Zwischen 2008 und 2017 kam es zu 1940 Observationen. In 985 Fällen habe sich der Verdacht auf Versicherungsmissbrauch bestätigt. Das bedeutet: Mindestens 955 Versicherte wurden zu Unrecht ausspioniert. Für Professor Pärli ist klar: «Jede ungerechtfertigte Überwachung ist eine zu viel.» Und: «Überwachungen sind nicht Sache der Versicherer – sondern von Justiz und Polizei.»
Referendum gegen das Schnüffelgesetz
Mit einem neuen Gesetz können die Sozialversicherungen nach ihrem eigenen Ermessen die Versicherten ausspionieren. Das Schnüffelgesetz gilt für die IV, AHV, Ergänzungsleistungen, Familienzulagen, Arbeitslosenversicherung sowie für die Krankenversicherungen und die Unfallversicherungen. Ein parteiunabhängiges Komitee hat das Referendum ergriffen. Es hat bis zum 5. Juli Zeit, die nötigen 50 000 Unterschriften zu sammeln. Bis jetzt sind 35 000 Unterschriften beisammen.
Unterschriftenbögen gibt es im Internet zum Herunterladen unter: Versicherungsspione-nein.ch
Krankenkassen: Kaum Anzeigen
Nicht nur IV und Suva, auch die Krankenkassen legen zu angeblichen Versicherungsbetrügen keine Zahlen vor. Helsana, CSS, Sanitas, Swica, Assura, Concordia, Groupe Mutuel und Visana sagen, sie hätten keine Statistik – oder sie verwiesen auf das «Geschäftsgeheimnis». Die Helsana sagt, sie habe 2016 «ein gutes Dutzend Fälle» angezeigt. Die Swica spricht von sechs, die Sanitas von drei Anzeigen. Von einer Verurteilung hingegen ist kaum die Rede. Die Concordia erklärt, im Jahr 2016 keine einzige Strafanzeige eingereicht zu haben.