Zwischen 1 und 1,2 Millionen Menschen lassen sich in der Schweiz jedes Jahr zu Beginn der kalten Jahreszeit gegen Grippe impfen. Jeden Winter erkranken laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) etwa 5 bis 10 Prozent der Erwachsenen und 20 bis 30 Prozent der Kinder an Grippe. Wie viele daran sterben, ist unklar (siehe Kasten). Am häufigsten erkranken Kinder im Schulalter. Sie verbreiten den Grippevirus wegen ihrer zahlreichen Sozialkontakte auch am meisten. Trotzdem empfiehlt das Bundesamt die Impfung nur für Menschen ab 65, Schwangere, Frühgeborene sowie Kinder und Erwachsene mit chronischen Krankheiten. Für diese könne eine Erkrankung an der Grippe besonders gefährlich werden.
Anders in Österreich. Das Bundesministerium für Gesundheit macht ebenfalls besonders Kinder für die Verbreitung der Infektion verantwortlich. Die Österreicher kommen aber zu einem anderen Schluss als die Schweizer. Sie empfehlen in ihrem «Impfplan 2017» nicht nur Risikogruppen die Grippeimpfung, sondern auch gesunden Kindern ab dem 6. Lebensmonat sowie gesunden Jugendlichen. Für das Ministerium ist klar: «Die Impfung von Kindern dürfte zurzeit die wirksamste Massnahme sein, um schwere Erkrankungen bei Risikogruppen zu verhüten.» Auch andere Länder empfehlen die Grippeimpfung für alle Kinder (siehe Grafik im PDF).
«Impfwirkung ist bei jungen Menschen viel besser»
Schützenhilfe erhalten die Österreicher vom Schweizer Infektiologen Pietro Vernazza. Er ist Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie und teilt die Argumentation aus Wien. «Ich kenne niemanden, der das anders sieht.» Die Impfwirkung sei bei jungen gesunden Menschen viel besser als bei Betagten und chronisch Kranken. Thomas Bregenzer, Chefarzt am Spital Lachen SZ, fordert: «Aus epidemiologischer Sicht sollte man auf jeden Fall auch gesunde Kinder impfen.» Gleich sieht es Christoph Fux, Chefarzt Infektiologie am Kantonsspital Aarau: «Nur mit einer nationalen Empfehlung, auch gesunde Kinder zu impfen, lässt sich eine Breitenwirkung erreichen.»
Das Bundesamt für Gesundheit geht davon aus, dass die Grippeimpfung bei gesunden jüngeren Menschen das Risiko einer Erkrankung um 70 bis 90 Prozent senkt, bei Senioren nur um 30 bis 50 Prozent. Es empfiehlt älteren Risikogruppen dennoch die Impfung – weil es davon ausgeht, dass eine schwache Impfwirkung besser sei als keine. Das ist laut Vernazza richtig, aber: «Würde es gelingen, viele Menschen mit gutem Immunsystem zu impfen, könnten mehr Leute geschützt werden.» Für Vernazza ist klar: «Einerseits profitieren die Kinder von der Impfung. Denn nicht alle Erkrankungsfälle verlaufen mild. Andererseits schützen geimpfte Kinder auch die Erwachsenen.»
Studien: Forcierte Impfung von Älteren senkt Sterberate kaum
Vernazza verweist auf Studien: «Als man in Japan von den Sechziger- bis in die Achtzigerjahre konsequent die Kinder und nicht die alten Menschen gegen Grippe geimpft hatte, war die Sterblichkeit bei den Älteren nur halb so hoch wie danach, als man auf die Impfung der Senioren umstellte.» Im Gegensatz dazu habe sich in den USA zur gleichen Zeit gezeigt, dass das forcierte Impfen von Älteren keine Veränderung der Sterberate bewirkte.
Warum hält das Bundesamt trotzdem an seiner Impfpolitik fest? Beraten wird es von der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. Präsident Christoph Berger sagt, die Einschätzung der Österreicher sei «theoretisch» richtig. «Aber für den indirekten Schutz von Risikogruppen braucht es bei gesunden Kindern und Jugendlichen eine hohe Durchimpfungsrate von mindestens 50 Prozent, damit deutlich weniger Viren zirkulieren.»Damit könne die Zahl der Todesfälle bei Risikogruppen und die Zahl der Hospitalisierungen sinken, so Berger, Leiter Infektiologie am Uni-Kinderspital Zürich. Bei einer tiefen Impfrate gäbe es nur einen Schutz für die geimpften Kinder sowie etwa für deren Grosseltern, die eine schlechtere Immunabwehr hätten.
Tatsächlich ist die Impfquote in der Schweiz tief. 32 Prozent der über 64-Jährigen lassen sich hier laut dem Bundesamt für Gesundheit gegen die Grippe impfen. Bei Menschen mit chronischen Krankheiten sind es 29 Prozent. Und bei Angestellten im Gesundheitswesen gerade mal 25 Prozent. Das Bundesamt verteidigt seine Empfehlungen denn auch mit der Impfskepsis: Es bräuchte eine hohe Durchimpfungsrate bei gesunden Kindern, um in der gesamten Bevölkerung einen Effekt zu erreichen.
Alle Infektiologen erklären, dass es eine hohe Durchimpfungsrate braucht – und wie schwer diese durchzusetzen ist. Vernazza: «Gesunde Kinder für immungeschwächte alte Menschen impfen zu lassen ist auch eine Frage der Solidarität.»
Grippetote: Zahlen sind nur Schätzungen
Das Bundesamt für Gesundheit schreibt auf seiner Internetseite, pro Jahr würde die Grippe «mehrere hundert Todesfälle» verursachen.
Das Bundesamt für Statistik dagegen kommt auf deutlich weniger Grippetote: 2014 waren es laut seiner Statistik 50, im Jahr davor 73, und 2012 starben 35 Menschen an dem Virus. Bei ihnen wurde der Grippetod durch Laborbefunde nachgewiesen.
Die Zahl des Bundesamts für Gesundheit ist nur eine Schätzung. Sie basiert auf einem international angewandten Verfahren: Dabei wird die Zahl der Sterbefälle der Sterberate im Land gegenübergestellt. Ist die Zahl der Verstorbenen höher als die durchschnittliche Rate, werden die zusätzlichen Todesfälle der Grippe zugeordnet. Das Bundesamt wendet dieses Verfahren an, weil nicht alle Grippetoten als solche erkannt werden.