Eine gut 50-jährige Frau sitzt vor den drei Richtern am Bezirksgericht. Sie wird begleitet von einem jungen Anwalt. Die Richter haben zur Zeugenbefragung geladen. Die Frau verlangt wegen eines Behandlungsfehlers 587 965 Franken Schadenersatz für Lohnausfall und entstandene Kosten. Der Arzt der Privatklinik habe seine Sorgfaltspflicht verletzt. Für eine MRI-Untersuchung spritzte er der Frau Kontrastmittel ins Knie. Darauf kollabierte sie und wurde – ohne medizinisch überwacht zu werden – in einer abgetrennten Nische im Behandlungszimmer warten gelassen. Die Frau macht geltend, ein zweiter Kollaps sei lange unbemerkt geblieben.
Die Frau erklärt dem Richter, aufgrund des Erlebten habe sie ihre Arbeit als Leiterin Personalentwicklung aufgeben müssen. Sie beziehe heute eine IV-Rente und arbeite nur noch zu 20 Prozent in einem Kinderhort.
Obwohl die Frau über starken Schmerz klagte, machte der Arzt weiter
«Als der Arzt mit der Nadel ins Knie stach, zuckte es wie ein elektrischer Stoss durch mein Bein, es tat extrem weh», erinnert sie sich. Sie habe gesagt, dass es weh tue, doch der Arzt habe nicht aufgehört zu spritzen. «Ich sagte, mir werde schlecht vor Schmerz, ich müsse mich erbrechen.» Der Arzt habe noch ein zweites Fläschchen Kontrastmittel auf die Spritze geschraubt und weitergemacht. «Ich konnte mich nicht mehr wehren und wurde ohnmächtig.»
«Meine nächste Erinnerung ist, dass ich in einem engen Verschlag bin und um Hilfe rufe.» Sie habe hyperventiliert. Daraufhin habe man ihr die Füsse hochgelagert. «Ich erbrach Blut und bekam keine Luft mehr. Ich hörte den Arzt sagen: Woher kommt all das Blut?» Und weiter: «Der Puls geht weg, holt den Reanimationswagen!» Sie sei sicher gewesen, dass sie sterben müsse.
Der Richter bittet den Arzt in den Gerichtssaal. Er wirkt unsicher. Er berichtet, wie sich die Situation seiner Meinung nach abgespielt hat: «Gegen Ende der Spritze ist die Patientin kollabiert. Das kommt nicht selten vor.» Es sei üblich, diese Reaktion mit Kopftieflage, Hochhalten der Beine und gutem Zureden zu behandeln. Dann sei etwas Ungewöhnliches passiert: Ein weiterer Kollaps. «Noch nie in meinem Berufsleben habe ich beobachtet, dass es zu einer zweiten und viel heftigeren Reaktion mit Hyperventilieren, Erbrechen, Aspiration und zeitweiser Bewusstlosigkeit kam.» Möglicherweise habe er beim Spritzen einen Nerv getroffen. «Aber ich bestreite, dass das einen Schaden verursacht hat!»
Beim Kollaps offenbar Blut oder Magensäure eingeatmet
Nun befragen die Richter eine Reihe von Zeuginnen: Eine Ärztin des Spitals, die damalige Praxisassistentin des Arztes und Freundinnen der Patientin. Die Praxisassistentin sagt, sie habe kein Blut gesehen. Die Patientin habe bloss gewürgt. Die Ärztin erzählt, sie habe nach dem Vorfall auf der Röntgenaufnahme «Verschattungen auf der Lunge» gesehen. Vermutlich habe die Patientin Blut oder Magensäure eingeatmet. Eine der Freundinnen sagt aus, die Patientin sei nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Das Gericht kommt im Urteil 16 Monate später zum Schluss, dass der Arzt seine Pflichten «sachgerecht» erfüllt habe. Ein Arztfehler liege nicht vor. Es folgt damit dem Resultat eines ärztlichen Gutachtens, das es in Auftrag gab. Demnach waren die Massnahmen des Arztes nach dem ersten Kollaps genügend. Ihm sei «keine Sorgfaltspflichtverletzung hinsichtlich der Behandlung/Betreuung zwischen den beiden Ereignissen vorzuwerfen». Der Kollaps sei absolut nicht voraussehbar gewesen. Die Forderung der Patientin nach Schadenersatz wird abgewiesen.
Die Gerichtskosten von gut 26 000 Franken gehen zulasten der Frau. Sie muss dem Beklagten überdies rund 41 000 Franken Parteientschädigung zahlen.
Schadenersatzanspruch: Patienten müssen Fehler nachweisen
Der Vertrag zwischen Arzt und Patient ist in der Regel ein Auftrag. Das bedeutet: Wer geltend macht, dass ihm aus der ärztlichen Behandlung ein finanzieller Nachteil entstanden ist, und deshalb Schadenersatz fordert, muss einen Arztfehler nachweisen. Ärzte sind verpflichtet,
die Patienten nach allen Regeln der Kunst und sorgfältig zu behandeln. Sie müssen aber keine Heilung garantieren.
Im Prozess um einen Schadenersatzanspruch gegen einen Arzt muss der Patient den Beweis für die unsorgfältige Behandlung erbringen. Er kann das mit Urkunden, Zeugen und Expertisen tun. In der Regel gibt das Gericht in streitigen Fällen selbst ein Gutachten in Auftrag. Dieses soll klären, ob die ärztliche Behandlung unsachgemäss oder unsorgfältig war. Die Gerichte folgen in ihrem Urteil fast immer den Schlussfolgerungen des Gutachters, weil sie selbst keine medizinischen Spezialisten sind.