Es sind «570 Missbrauchsfälle aufgedeckt» worden, hält die «Berner Zeitung» in einem Artikel über den Rückgang der IV-Neurenten fest: «In insgesamt 570 Fällen wurde das bewusste Erschleichen einer Leistung nachgewiesen, in 130 Fällen auf Grund einer Observation.» Und weiter: «In 46 Fällen haben die IV-Stellen unrechtmässig bezogene Leistungen zurückgefordert, in 30 Fällen Strafanzeige erstattet.»
Die Botschaft kommt bei der Leserschaft an. Ein M. A. schreibt zum Artikel im Internet: «Danke für die Aufdeckung der nicht weniger als 570 erschlichenen Fälle! Die Methode der Überwachung ist zum Schutz der wirklich bedürftigen Fälle leider nötig.» Leser H. M. gibt noch eins drauf: «Ich frage mich: Warum wird nicht einfach und banal von Versicherungsbetrug geschrieben? Das ist meines Erachtens der strafrechtliche Tatbestand dazu.»
Das Bundesamt operierte mit fragwürdigem Begriff
Die Frage ist berechtigt: 570 Mal konstatierten die Beamten angeblich eine «erschlichene Leistung», aber nur in 30 Fällen kam es zu einer Strafanzeige. Und über allfällige rechtskräftige Schuldsprüche von Gerichtsinstanzen steht in der Meldung nichts.
Des Rätsels Lösung: Die «Berner Zeitung» druckte eine Meldung der Nachrichtenagentur SDA ab, der Schweizerischen Depeschenagentur. Diese stützte sich auf eine Pressemitteilung der Invalidenversicherung, die das Bundesamt für Sozialversicherung verschickt hatte. In dieser Verlautbarung heisst es wörtlich: «Die IV hat im vergangenen Jahr in 2570 Fällen Ermittlungen wegen Versicherungsmissbrauchs aufgenommen, 2100 Fälle waren vom Vorjahr hängig. In 510 Fällen wurde eine Observation durchgeführt. In 570 von 2540 im Jahr 2013 abgeschlossenen Fällen wurde das bewusste Erschleichen einer Leistung nachgewiesen.» Die SDA kann sich also auf eine eindeutige Quelle berufen.
Oder doch nicht? Gleichzeitig mit dieser Meldung hat das Bundesamt auf der Website weitere Links aufgeschaltet. Und wer diese anklickt, bekommt ein ganz anderes Bild des Sachverhalts.
Im ersten Text ist zu lesen: «Die IV-Stellen bekämpfen den Versicherungsmissbrauch gezielt, strukturiert und mit gut ausgebildeten Spezialistinnen und Spezialisten. Sie klären entsprechende Hinweise professionell ab. Diese Abklärungen führen in den meisten Fällen dazu, dass die in Verdacht geratenen Versicherten vom Vorwurf des Versicherungsmissbrauchs befreit werden und nur in 22 Prozent der untersuchten Fälle tatsächlich ein Versicherungsmissbrauch nachgewiesen wird.»
Und noch klarer wird der Sachverhalt für den Leser mit der zweiten Meldung auf der gleichen Website: «In jeder Versicherung kann es aus verschiedenen Gründen dazu kommen, dass versicherte Personen Leistungen zugesprochen erhalten, auf die sie eigentlich gar keinen Anspruch hätten. Nicht immer handelt es sich dabei im juristischen Sinne um Betrug – deswegen wird der nicht juristisch zu verstehende Begriff des ‹Versicherungsmissbrauchs› verwendet.»
Die Nachrichtenagentur wollte Beamtendeutsch vereinfachen
Mit andern Worten: Das Bundesamt wirft zwar einzelnen IV-Bezügern einen Versicherungsmissbrauch vor, aber die Leserschaft soll das, bitte schön, nicht juristisch verstehen. In der Folge zählt das Bundesamt für Sozialversicherung auf, wie es zu ausbezahlten Leistungen kommen kann, die einem Bezüger eigentlich nicht zustehen: «Verletzung der Meldepflicht» bei einem verbesserten Gesundheitszustand oder auch eine «nicht vorsätzliche Unterlassung von Angaben bei der Abklärung des Anspruchs von IV-Leistungen».
Das ist alles in einem nahezu unverständlichen Beamtendeutsch geschrieben. So reduzierten die Journalisten der SDA den Sachverhalt auf eine zwar einfache, aber unzulässig verkürzte Meldung, die dem Leser ein falsches Bild vermittelt. Und die Zeitungsredaktionen von «Blick» bis «Tages-Anzeiger» verbreiteten sie ungeprüft.
Zeitungen druckten die Meldung trotz offener Fragen gedankenlos ab
Im Nachhinein ist man immer klüger. Aber zumindest zwei Zahlen hätten einen kritischen Journalisten stutzig machen können: In 570 Fällen wurde eine erschlichene Leistung angeblich nachgewiesen, aber nur in 30 Fällen kam es zu einer Strafanzeige. Ja was ist denn mit den andern 540 Fällen los? Auf diese Frage verdienen die Leser eine Antwort. Und: Eine Anzeige ist noch keine Anklageerhebung und erst recht keine rechtskräftige Verurteilung.
Die IV-Bezügern nahestehende Vereinigung «Selbstbestimmung.ch» hat den Fall aufgegriffen und der SDA einen geharnischten Brief geschrieben. Zu Recht, auch wenn die einzige Agentur des Landes diese Falschmeldung nicht allein verschuldete. Leider handelt es sich um ein sehr typisches Beispiel für die gedankenlose Übernahme des Textes einer Agentur, der seinerseits allein auf einer behördlichen Verlautbarung basierte. Das zeigt: Viele Journalisten verzichten auf eine Verifizierung von Meldungen aus dritter Hand – und verstehen sich als unkritische Meldeläufer für Behörden, Politiker und Unternehmen.