Zwei Jahre lang suchte die junge vierköpfige Familie M. eine bezahlbare Wohnung in Zürich. Sie besichtigte zahlreiche Wohnungen privater Liegenschaftsbesitzer und schrieb über zwanzig Baugenossenschaften an. Schliesslich ergatterte sie eine 4,5-Zimmer-Genossenschaftswohnung für unter 2000 Franken.
Kein Zufall, Genossenschaftswohnungen zählen zum sogenannten gemeinnützigen Wohnungsbau. Hier wird der Mietzins auf Basis der tatsächlichen Kosten festgelegt. Das sind Anlage- und Betriebskosten, Kapitalverzinsung und Abschreibungen. Es darf kein oder nur ein geringfügiger Gewinn erzielt werden. Dies im Gegensatz zur Marktmiete: Hier bestimmt die Nachfrage und die Finanzkraft der Mieter den Preis.
In der Schweiz wohnen gemäss Eurostat, dem statistischen Amt der EU, nur 4,5 Prozent der Einwohner in einer Wohnbaugenossenschaft oder in einer staatlich subventionierten Wohnung. Und dieser Anteil schrumpft: 2010 waren es noch 5,8 Prozent. Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt profitieren 11 Prozent der Bevölkerung von tieferen Mieten.
Aktuell bezahlen 51,7 Prozent der Schweizer eine Marktpreismiete. In Deutschland sind es 38,6 Prozent, in Österreich gar nur 26,1 Prozent.
Die Differenz zwischen Kosten- und Marktmiete ist gross. Mieter einer Wohnbaugenossenschaft oder einer städtischen Liegenschaft zahlen «deutlich tiefere Mieten» als Nicht-Genossenschafter, so eine Studie der Stadtentwicklung Zürich von 2011: Ein Durchschnittsmieter einer Genossenschaft spart in Zürich monatlich 500 Franken pro Wohnung oder 200 Franken pro Zimmer.
Die Wartelisten für Wohnungen in Genossenschaften sind in der Schweiz lang. Christoph Enzler vom Bundesamt für Wohnungswesen: «In den Agglomerationen Zürich und Genf gibt es günstigen Wohnraum nur noch in zunehmender Distanz zur Kernstadt. Das lässt die Pendelströme anschwellen.»
Auch Genossenschaften verlangen neuerdings aufgrund der strengen Bauvorschriften für neue Objekte teilweise hohe Mieten – trotz Verzicht auf Gewinnstreben. So rechnet die Stadt Zürich bei der geplanten Wohnsiedlung Kronenwiese mit einer Kostenmiete für eine 4,5-Zimmer-Wohnung von 2150 Franken – ohne Nebenkosten. Zum Vergleich: Im Mittel kostet eine vergleichbare Wohnung mit Marktmietzinsen laut dem Immobilienbüro Wüest & Partner in Biel 1340 Franken, in Basel 1640 Franken, in Bern 1720 oder in Luzern 1800 Franken. In Zürich sind es 2360 Franken.
Bevölkerung fordert Behörden zunehmend zum Handeln auf
Steigende Mieten sind in vielen Städten ein so grosses Problem, dass die Bevölkerung die Behörden per Abstimmung zum Handeln gezwungen hat:
- Luzern: Bis 2037 muss die Stadt 2300 neue preisgünstige, gemeinnützige Wohnungen bauen. Dies forderte die Volksinitiative «Für zahlbaren Wohnraum». Sie wurde 2012 angenommen.
- Basel: Die Stimmberechtigten nahmen im letzten Herbst einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Bezahlbares und sicheres Wohnen für alle!» an. Die Stadt muss nun unter anderem für 20 Millionen Franken Grundstücke an Organisationen des gemeinnützigen Wohnungsbaus günstig im Baurecht abgeben.
- Bern: Hier wurde im Mai die Volksinitiative «Für bezahlbare Wohnungen» angenommen. Bei Um- und Neueinzonungen muss künftig mindestens ein Drittel der neuen Wohnungen preisgünstig sein.
- Zürich: Auf Kantonsebene und in Winterthur wird über ähnliche Vorlagen im September respektive November abgestimmt. Die Stadtzürcher sprachen sich bereits 2011 dafür aus, dass der Anteil an gemeinnützigen Wohnungen bis ins Jahr 2050 auf 33 Prozent steigen soll. Die Stadt Zürich hat heute einen Anteil von 25 Prozent gemeinnütziger Wohnungen – für Schweizer Verhältnisse ein hoher Wert. Ähnlich hoch ist er in Biel. Luzern, Winterthur, Basel, Bern, St. Gallen und Genf haben Anteile von 10 bis 14 Prozent.
Anders die Zahlen im benachbarten Ausland:
- Berlin: In Deutschlands Hauptstadt gehören 28 Prozent der Mietwohnungen Wohnbaugenossenschaften. Bis 2016 sollen zu den 475 000 bestehenden gemeinnützigen Wohnungen 30 000 neue dazukommen. Wer letztes Jahr in Berlin eine gemeinnützige 70-Quadratmeter-Wohnung bezog, bezahlte laut offiziellen Zahlen 520 Franken im Monat. Auf dem freien Markt waren es 700 Franken – jeweils ohne Nebenkosten. Das heisst: Mieter in Wohnbaugenossenschaften zahlten im Schnitt 35 Prozent weniger.
- Wien: Hier wird gar nur in einem von acht Mietverträgen eine Marktpreismiete verlangt. 90 Prozent der Mieter wohnen in Wohnbaugenossenschaften, städtischen Wohnungen oder Altbauwohungen, deren Mietzins gesetzlich festgelegt ist. Die Stadt Wien besitzt 220 000 Wohnungen. Darin wohnen 500 000 Mieter. Dazu kommt: In den letzten fünf Jahren stiegen die Angebotsmieten der Wiener Genossenschafts- und Gemeindewohnungen mit 13 Prozent viel langsamer als jene der Privaten mit 28 Prozent. Das berechnete die Abteilung Konsumentenpolitik der Arbeiterkammer Wien. Die Auswertung von 150 Wiener Wohnungsinseraten zeigt einen durchschnittlichen Mietzins von 753 Franken für eine 70-Quadratmeter-Altbauwohnung. In Zürich kostet eine Dreizimmerwohnung gemäss Wüest & Partner im Mittel 1920 Franken.
Marktmieten sind im Durchschnitt 18 Prozent höher
Laut einer Studie des Instituts für Finanzwissenschaften der technischen Universität Wien hat die Zahl gemeinnütziger Wohnungen auch Auswirkungen auf die Marktmieten: «Je weniger geförderte Wohnungen errichtet werden, umso stärker steigen die marktorientierten Mieten und umgekehrt.»
Eine neue Studie der Stadtentwicklung Winterthur zeigt: Wohnungen, die zu Marktpreisen vermietet werden, sind im gesamtschweizerischen Mittel 18 Prozent teurer als gemeinnützige Wohnungen. In Winterthur zahlen Privatmieter 13 Prozent mehr als Genossenschaftsmieter. In der Stadt Zürich sind es 27 Prozent mehr.
Der Grund: Je grösser die Nachfrage, desto mehr kann der Vermieter verlangen. Anders bei einer Genossenschaft. Der Mietzins darf nur die tatsächlichen Kosten abbilden.
Die Folge: Je angespannter der Wohnungsmarkt, desto teurer sind Wohnungen privater Bauträger im Vergleich zu gemeinnützigen Wohnungen. Herrscht wie in Zürich eine dauerhaft grosse Nachfrage, steigen die Marktmieten stärker als in einer Stadt mit schwächerer Nachfrage wie Winterthur.
Zurück zur eingangs erwähnten Familie M.: Die private Liegenschaftsbesitzerin schrieb ihre alte Dreizimmerwohnung aus. Dabei verlangte sie 45 Prozent mehr Miete. Der Mietvertrag liegt saldo vor. Trotzdem erschienen am Besichtigungstag rund vierzig Interessenten.
Marktpreismieten: Schweiz hält den Europarekord
In der Schweiz müssen 51,7 Prozent der Bevölkerung Marktpreismieten zahlen. Das heisst: Je gesuchter die Wohnung, desto höher die Miete. 43,8 Prozent der Bevölkerung besitzen Wohneigentum, 4,5 Prozent wohnen in gemeinnützigen Wohnbauten (Genossenschaften oder städtische Liegenschaften). In diesen wird die Miete auf Kostenbasis und ohne Gewinnmarge festgelegt, weshalb meist Wartelisten bestehen. Im EU-Durchschnitt profitieren 11 Prozent von günstigem Wohnraum.