Wenn der Kläger nicht im Rollstuhl sässe, wäre von der Tragik des Vorfalls vor dem Verhandlungssaal des Regionalgerichts Oberland in Thun nichts zu erahnen. Die beiden rund 30-jährigen Männer erscheinen kurz nacheinander und begrüssen sich mit der Herzlichkeit bester Kumpel. Andreas, der Kläger (Namen geändert), ist mit seiner Anwältin gekommen. Auch der Beklagte, Daniel, hat einen Anwalt, den ihm die Privathaftpflichtversicherung gestellt hat. Es reicht für eine kurze Plauderei, dann lässt der Einzelrichter in den Saal bitten.
Zur Debatte in diesem Zivilprozess steht die Schadenersatzforderung des Querschnittgelähmten, die auf die Rempelei im Jugendsportlager vom Sommer 2012 zurückgeht. Das Leben von Andreas habe sich «um halb drei Uhr in der Früh schlagartig und für immer verändert», sagt seine Anwältin. Die beiden Kollegen befanden sich auf dem Rückweg vom Leitercafé in die Unterkunft. Sie waren leicht angeheitert, blödelten herum und rempelten einander an. Zuerst wurde Daniel gegen einen Maschendrahtzaun gedrückt, dann kehrte er den Spiess um und schubste Andreas gegen eine kleine Thujahecke. Rücklings fallend, blieb Andreas an einem Draht hängen, der in der Hecke auf Kniehöhe gespannt war. Dabei fiel er unglücklich, purzelte hinter der Hecke eine Böschung hinunter, fiel über eine Mauer auf die Strasse und blieb querschnittgelähmt liegen.
Seine Anwältin machte geltend, Daniel hafte für den entstandenen Schaden. Er habe ihn fahrlässig verursacht. Daniel habe zwar nicht gewusst, was hinter der Hecke sei, Andreas aber trotzdem «heftigst hineingestossen». Daran ändere nichts, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung eingestellt habe. Andreas habe den Entscheid bewusst nicht angefochten, sagt sie: «Die beiden Männer sind nach wie vor beste Kollegen – mein Mandant will deshalb keine Verurteilung mit Eintrag im Strafregister. Doch er besteht darauf, dass sein Schaden ersetzt wird.»
«Tragik allein begründet keine Haftung»
Andreas klagte vorerst nur einen Teil seines Schadens ein: 35 000 Franken. Zuerst soll die Grundsatzfrage geklärt werden, ob Daniel hafte. Falls das Gericht die Frage bejaht, behält sich die Anwältin vor, die restliche Schadensumme geltend zu machen. Wie hoch die Gesamtforderung sein wird, sagt sie nicht. Es dürfte sich dabei um einen sechsstelligen Betrag handeln.
Daniels Anwalt bestreitet, dass sein Klient für die Unfallfolgen haften muss. Er spricht von einer «dramatischen Verkettung von unglücklichen Umständen» und einem «Zufallsopfer». «Der Fall ist sehr tragisch – das allein vermag aber keine Haftung zu begründen.»
Die Klage gegen Daniel diene nur dem Zweck, an das Geld der Haftpflichtversicherung zu kommen. Der Unfall im Jugendsportlager sei von der Militärversicherung abgedeckt. Deren Leistungen seien vermutlich besser als die Leistungen jeder anderen Unfallversicherung. Deshalb sei höchstens eine gewisse Ausgleichszahlung im Rahmen eines Vergleichs denkbar.
Der Anwalt legt dar, dass der Vorfall weder vorhersehbar noch vermeidbar gewesen sei. Daniel habe sich mit seinem leichten Schubser keiner Sorgfaltspflichtverletzung schuldig gemacht. Im Dunkel der Nacht habe die Thujahecke einen festen Eindruck vermittelt. Daniel habe nicht damit rechnen müssen, dass die Hecke dermassen instabil sei und sich dahinter ein Abhang verberge.
«Klare Verletzung der Sorgfaltspflicht»
Hier widerspricht die Anwältin des Klägers. Gerade weil es dunkel gewesen sei, liege die Verletzung der Sorgfaltspflicht auf der Hand. Man habe nicht sehen können, ob sich hinter der Hecke ein Abhang verberge, sagt sie: «Für jeden sorgfältig handelnden Menschen war klar, dass knapp brusthohe Thujapflanzen einen achtzig Kilogramm schweren Mann nicht aufzuhalten vermögen.»
Auf die Fragen des Richters schildern Andreas und Daniel die Vorgänge praktisch deckungsgleich. Man sei bester Stimmung und etwas angeheitert gewesen. Der genaue Ablauf des Unfalls bleibt aber unklar. «Es ging im entscheidenden Moment alles zu schnell.»
Der Richter schlägt Vergleichsgespräche vor. Diese ziehen sich über längere Zeit dahin. Mehr als dreieinhalb Stunden nach Beginn der Verhandlung steht eine Einigung. Die vereinbarte Summe wird nicht bekanntgegeben. Andreas rollt mit erleichtertem Gesichtsausdruck aus dem Saal. Auch Daniel wirkt zufrieden.
Haftung kann als Vorfrage beurteilt werden
In vielen Prozessen um Schadenersatz stellen sich grundsätzlich zwei Fragen: Ist die beklagte Partei für den Schaden überhaupt haftbar? Falls ja, wie gross ist der Schaden?
Die erste Frage nach der Haftung ist im Wesentlichen eine Rechtsfrage. Sie kann vom Gericht oft ohne grosses Beweisverfahren beantwortet werden.
Anders die Frage nach der Höhe des Schadenersatzes: Dafür ist ein akribisches Zusammenstellen von unfallbedingten Ausgaben, Sammeln von Quittungen und Lohnabrechnungen nötig. Umfangreiche Beweisverfahren sind nicht selten. Um unnötigen Aufwand zu vermeiden, klären die Gerichte oft zuerst nur die grundsätzliche Frage der Haftung.