Linda Büchi ist ein offener und sportlicher Mensch. Als junge Frau hat sie die Matur gemacht, kurz darauf geheiratet, zwei Buben grossgezogen, eine kaufmännische Ausbildung nachgeholt und in der Personalberatungsfirma ihres Mannes mitgearbeitet.
Nach der Scheidung übernahm sie das Unternehmen und führte es einige Jahre weiter. Mit 50 lief sie den Jungfrau-Marathon. Mit 53 schaffte sie einen weiteren Gipfel: Sie erwarb nach der Aufgabe ihrer Firma, nun teilzeitangestellt, einen Bachelor in Rechtswissenschaften. Das Masterstudium brach sie schweren Herzens ab, nachdem ihr gekündigt worden war. Im Juni 2016 meldete sie sich beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV). Zwei Jahre lang erhielt sie Taggelder von monatlich 2500 Franken. Seit Ende Mai ist sie ausgesteuert. «Ich weiss zurzeit nicht, wie es weitergehen soll», sagt Linda Büchi. Am 1. August wird die Zürcherin 58.
Der Arbeitsmarkt Schweiz brummt. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist mit rund 110 000 so tief wie vor zehn Jahren. Viele über 55-Jährige sind erwerbstätig – ihre Arbeitslosenquote lag seit dem Jahr 2000 unter dem Durchschnitt. Doch dieses Jahr kam die Trendwende: Laut den aktuellsten Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) beträgt die Arbeitslosenquote über alle Altersklassen 2,4 Prozent. Bei den 55- bis 59-Jährigen ist sie mit 2,5 Prozent leicht höher. Das zeigt der Seco-Bericht «Die Lage auf dem Arbeitsmarkt» im Monat Mai 2018.
Nur jeder dritte Ausgesteuerte über 60 findet noch einen Job
Das Problem: Ältere Arbeitslose bleiben deutlich länger erwerbslos als jüngere. Der Anteil an Langzeitarbeitslosen (über ein Jahr) bei den 55- bis 59-Jährigen lag 2017 bei 26,8 Prozent, bei den über 60-Jährigen gar bei 39,9 Prozent. Das ist drei Mal höher als bei den 30- bis 34-Jährigen (13,1 Prozent, siehe Grafik). Das Risiko, ausgesteuert zu werden, ist bei den über 55-Jährigen mit 32 Prozent ebenfalls klar über jenem der Jüngeren. Das besagen Zahlen des Seco.
Zwischen 2010 und 2017 wurden pro Jahr rund 7000 Arbeitslose über 55 ausgesteuert. Das heisst: Sie erhielten kein Geld mehr von der Arbeitslosenversicherung. Die Stellensuche der Ausgesteuerten dieser Altersklasse erwies sich als sehr schwierig. Nur 35 Prozent der über 60-Jährigen findet im dritten Jahr nach der Aussteuerung noch einen Job, bei den 55- bis 59-Jährigen sind es immerhin 54 Prozent.
Wer eine neue Arbeit hat, erhält einen viel tieferen Lohn als früher: Angestellte mit einer Arbeitslosendauer zwischen zwei und fünf Jahren müssen einen Einkommensverlust von durchschnittlich 30 Prozent in Kauf nehmen. Dies hat das Beratungsunternehmen Ecoplan berechnet.
Ende April 2018 fand in Bern die vierte nationale Konferenz zum Thema ältere Arbeitnehmer statt. Bundesrat Johann Schneider-Ammann und Vertreter der Kantone, Gewerkschaften und Arbeitgeber kamen überein, «Vorschläge zu prüfen, mit denen finanzielle und soziale Probleme durch drohende Aussteuerungen von älteren Arbeitslosen verhindert werden können».
Zuvor hatte die Konferenz für Sozialhilfe gefordert, dass über 55-jährige Arbeitslose nicht mehr ausgesteuert werden und bis zum Rentenalter Arbeitslosengelder erhalten. Voraussetzung wäre, dass die Betroffenen während 20 Jahren Beiträge an die Arbeitslosenversicherung bezahlt haben. Dem Alter wird schon heute Rechnung getragen: Arbeitslose ab 55 haben Anspruch auf 520 Taggelder. Wird jemand innerhalb der letzten vier Jahre vor dem AHV-Rentenalter arbeitslos, so erhält er zusätzliche 120 Taggelder.
Taggelder verlängern: Das Geld wäre vorhanden
Eine Verlängerung der Arbeitslosentaggelder für über 55-Jährige wäre finanzierbar. Das zeigt folgende Modellrechnung: Jährlich werden in diesem Alter rund 7000 Versicherte ausgesteuert. Als Arbeitslose erhielten sie 70 Prozent ihres letzten Lohns. Der mittlere Lohn (Medianlohn) beträgt in der Schweiz 6500 Franken pro Monat. Somit resultieren für 7000 Arbeitslose, die im Lauf des Jahres ausgesteuert wurden, Kosten von rund 190 Millionen Franken pro Jahr (bei einer durchschnittlichen Aussteuerung Mitte Jahr).
Im vergangenen Jahr nahm die Arbeitslosenversicherung 7,74 Milliarden Franken ein. Die Ausgaben beliefen sich auf 7,34 Milliarden – also rund 400 Millionen Franken weniger. Damit hätte man die ausgesteuerten über 55-Jährigen, die keinen Job mehr fanden oder sich nicht frühpensionieren liessen, finanzieren können. Auch im laufenden Jahr sprudeln die Prämien weiter – bei einer tiefen Arbeitslosenquote.
Linda Büchi hofft weiter, dass sie einen Job finden wird. Sozialhilfe hat sie noch nicht beantragt. Sie fühle sich wie ein Spieler auf der Ersatzbank: «Ich habe trainiert und trainiert, ein Leben lang. Und trotzdem bekomme ich jetzt keine Chance für einen Einsatz.»