Mehr als 100 Meter am Stück kann ich nicht mehr gehen», sagt der 47-jährige Patrick H., «dann schmerzen die entzündeten Sehnen zu stark.» Vor fünf Jahren lief der Zürcher Unternehmensberater noch einen Halbmarathon. Dann verschrieb ihm ein Arzt das Antibiotikum Levofloxacin wegen Verdachts auf eine Prostataentzündung. Das Mittel gehört zur Antibiotikagruppe der Fluorchinolone.
Nach einigen Tagen zitterte Patrick H. am ganzen Körper, die Muskeln schmerzten, besonders die Achillessehnen. Er verspürte ein Kribbeln im Gesicht, Taubheit an Händen und Füssen. Er litt an Panikattacken und schlief kaum noch. Nach einer Woche setzte er das Mittel ab. Im Internet fand Patrick H. Hinweise, dass Fluorchinolon-Antibiotika solche Nebenwirkungen verursachen können.
Die psychischen und neurologischen Symptome verschwanden mit der Zeit – nicht aber die Beschwerden an Sehnen und Bändern. Inzwischen kann Patrick H. nur noch in einem Teilzeitpensum arbeiten.
Fluorchinolone können das Bindegewebe angreifen
Heute dürfen Ärzte Fluorchinolone nicht mehr gegen harmlose Entzündungen verordnen. Das Heilmittelinstitut Swissmedic untersagte im Januar 2018 den Einsatz dieses Mittels bei «einfachen Infekten» etwa der Harnwege, der Nasennebenhöhlen oder bei einer Bronchitis. Die Behörde stellte fest, dass die Mittel zu schweren, «potenziell irreversiblen Schäden verschiedener Organsysteme» führen können. Die Symptome treffen sofort oder auch erst Wochen nach Einnahme des Präparats ein. Zuvor hatten unter anderem die US-Arzneimittelbehörde FDA sowie Hersteller Sanofi vor Nebenwirkungen wie tödlichem Leberversagen, Herzstillstand oder Hör- und Sehverlust gewarnt.
Inzwischen ist klar, warum Fluorchinolone so viel Schaden anrichten können. Der deutsche Arzt Stefan Pieper veröffentlichte in der Fachzeitschrift «OM & Ernährung» im vergangenen Jahr dazu einen Aufsatz. Sein Befund: Fluorchinolone können das Bindegewebe angreifen. Mögliche Folgen sind Sehnenrisse, Netzhautablösungen und Arterienrisse. Zudem besteht das Risiko, dass sie die Nerven schädigen. Betroffene können dann unter anderem Depressionen entwickeln oder an Panikattacken leiden. Laut Stephan Krähenbühl, Pharmakologe am Unispital Basel, sollten Ärzte «Fluorchinolone nur einsetzen, wenn es keine Alternativen gibt». In der Regel lassen sie sich laut dem Wissenschaftlichen Institut der deutschen Krankenkasse AOK durch «gut wirksame und risikoärmere Antibiotika» ersetzen.
Ärzte in Praxen und Notfallstationen verschrieben in der Schweiz im vergangenen Jahr trotzdem 550 000 Packungen mit Fluorchinolonen. Ein Jahr zuvor waren es fast 630 000. Besonders oft verordneten sie Ciprofloxacin-Generika, Ciproxin, Tavanic und Avalox. Das zeigen Statistiken des Krankenkassenverbandes Curafutura und der Datenfirma Sasis AG. Laut der deutschen Krankenkasse AOK verbrauchen Patienten in der Regel eine Packung pro Therapie. Das heisst: Im vergangenen Jahr bekamen in der Schweiz bis zu 550 000 Patienten die risikoreichen Antibiotika. Das Bundesamt für Gesundheit betont: Der Verbrauch dieser Antibiotikagruppe sinke seit Jahren, sei aber weiterhin «relativ hoch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern».
Laut Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Uni Zürich, sind sich viele Hausärzte «der Risiken von Fluorchinolonen nicht bewusst». Sie verordneten sie auch gegen harmlose Infekte. Patrick H. attestiert vielen Ärzten «Ahnungslosigkeit». Sie hätten seine Symptome nicht ernst genommen: «Manche lachten mich aus.»
Mehr Nebenwirkungen als angenommen
Das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic hat seit 1991 rund 1610 Fälle von unerwünschten Nebenwirkungen von Fluorchinolonen registriert. Im vergangenen Jahr gingen 78 Meldungen von Ärzten und Patienten ein. Swissmedic bezeichnet die Zahl der Meldungen als «klein».
Ob das stimmt, ist fraglich. Das Wissenschaftliche Institut der deutschen Krankenkasse AOK hat berechnet, dass bei 100 000 Fluorchinolon-Anwendern im Vergleich mit anderen Antibiotika zusätzlich 1161 Fälle von Verwirrtheit und Unruhe auftreten, plus 33 Sehnenrisse, 8 Schädigungen der Hauptschlagader sowie 4 tödliche Herz-Kreislauf-Fälle. Umgerechnet auf die Schweiz heisst das: Gut 6500 der Behandelten des vergangenen Jahres erlitten Nebenwirkungen.