Der Lärm des Strassenverkehrs raubt Anwohnern den Schlaf und erhöht das Risiko von Bluthochdruck oder eines Herzinfarkts. Bereits vor zehn Jahren legte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) alarmierende Werte für die Schweiz vor (saldo 10/2011). Demnach waren 3,7 Millionen Bewohner tagsüber Strassenverkehrslärm von mindestens 55 Dezibel ausgesetzt. In der Nacht wurden knapp 2 Millionen von Strassenlärm geplagt. Laut WHO nehmen negative gesundheitliche Auswirkungen ab 50 Dezibel deutlich zu.
Doch verbessert hat sich bis heute wenig. Die Wirkung der Schallschutzwände und -fenster verpuffte wegen der Zunahme des Autoverkehrs. Kürzlich stellte die Europäische Umweltagentur fest, dass die Quote der Lärmgeplagten in der Schweiz höher ist als in 32 anderen europäischen Ländern (saldo 15/2020).
E-Autos: Fahren ohne Lärm wäre endlich möglich
Gesundheitsexperten fordern deshalb schon lange, den Strassenverkehrslärm an der Quelle zu bekämpfen. Mit dem Aufkommen des E-Autos bot sich eine einmalige Gelegenheit: Fahren ohne Motorenlärm wurde möglich. Doch die Industrie schaffte es mit Hilfe der Behörden, den Autolärm zu retten. Seit dem 1. Juli 2019 müssen in der EU alle neuen Modelle von Elektroautos mit einem AVAS-Geräuschgenerator ausgestattet sein – auch in der Schweiz. AVAS steht für «Acoustic Vehicle Alerting System». Dieses akustische Fahrzeugwarnsystem dient eigentlich zum Schutz von Fussgängern. Es soll sie vor den leisen E-Autos warnen. Das war zumindest die Absicht der EU-Kommission. Ein künstliches Geräusch sollte beim Anfahren, Rückwärtsfahren und bis zum Erreichen einer Geschwindigkeit von 20 km/h ertönen – bei höherem Tempo genügt das Rollgeräusch der Reifen. Seit einiger Zeit sind einige elektrische Kleinwagen wie der E-Golf oder Renault Zoe mit einem Geräuschgenerator unterwegs. Diese Modelle summen bis 20 km/h leicht, diskret – und vor allem leise.
Ab 1. Juli 2021 ist der Einbau solcher Warnsysteme bei allen E-Autos obligatorisch. Neu dürfen sie auch nach Erreichen der Geschwindigkeit von 20 km/h künstlichen Lärm erzeugen. Und zwar genauso laut wie etwa Sportwagen. «Bei Geschwindigkeiten über 20 km/h gelten die üblichen Lärmgrenzwerte für Strassenfahrzeuge», sagt Thomas Rohrbach vom Bundesamt für Strassen. Im Klartext: Ab Juli gilt für E-Autos ein maximaler Geräuschpegel von 75 Dezibel. So laut dürfen Benziner europaweit sein.
Heavy-Metal-Band schuf den Sound für Mercedes
Die Autoindustrie wirbt bereits mit dröhnenden E-Autos: Beim Audi-Modell E-Tron GT zum Beispiel können Fahrer das Soundsystem so einstellen, dass es bei höherem Tempo mehr lärmt. Ausserdem können die Käufer des Audis ein Extra-Sound-Paket mit zusätzlichen Lautsprechern am Heck und an den hinteren Türen erwerben. Originalton Audi: «Der unverwechselbare Klang bringt den Fahrzeugcharakter zum Ausdruck.» Und: «So schaffen Antriebsgeräusche in Verbindung mit dem innovativen Sounderlebnis eine emotionale Verbindung zum Fahrzeug.»
AMG, eine Abteilung von Mercedes, hat gar mit einer Heavy-Metal-Band ein Soundkonzept erarbeitet – damit der «raue» AMG-Klang auch für Stromer erhalten bleibt.
«Die Vorzüge der E-Autos werden künstlich zerstört»
Das deutsche Umweltbundesamt riet der EU von Geräuschgeneratoren für Elektrofahrzeuge «aus Sicht des Lärmschutzes» ab. Das renommierte Center Automotive Research an der Universität Duisburg-Essen kam zum Schluss, dass Elektroautos in Bezug auf die Geräuschwahrnehmung genauso sicher respektive unsicher sind wie moderne Benziner. Darum hält es auch der Deutsche Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer für falsch, «die Vorzüge der Elektroautos, das geräuschlosere Fahren, künstlich zu zerstören».
Dafür haben die Behörden der EU und der Schweiz aber kein Gehör. Laut dem Bundesamt für Strassen gehe es «um die Sicherheit der am stärksten gefährdeten Personengruppen». Also der Sehbehinderten, der älteren Menschen und der Kinder. Auf die Frage von saldo, ob Personenunfälle im Zusammenhang mit leisen Elektroautos zugenommen hätten, antwortet das Bundesamt: «In der Unfallstatistik wird bei Personenwagen nicht nach Antriebsart unterschieden.» Mit anderen Worten: Das Sicherheitsargument der Behörden ist vorgeschoben – um einen Wunsch der Autoindustrie durchzusetzen.