Fast jeder vierte Patient über 65 Jahre bekommt von seinem Arzt Medikamente verschrieben, die ihn noch kränker machen können, als er bereits ist. Das zeigt eine neue Schweizer Studie, die das US-Fachmagazin «PLOS One» vor kurzem veröffentlichte.
Die Forscher analysierten die Verschreibungsdaten von 50 000 Hausarztmodell-Versicherten der Krankenkasse Helsana, die über 65 Jahre alt waren. Dabei fanden sie heraus, dass 22,5 Prozent der Patienten ein Medikament verordnet wurde, das ihre Gesundheit gefährdete. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.
Patienten über 65: Im Durchschnitt zehn Pillen gleichzeitig
Zu den heiklen Medikamenten gehören vor allem Beruhigungs- und Schlafmittel, Psychopharmaka und entzündungshemmende Präparate. Mitautor Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Uni Zürich, rechnet gar mit noch mehr heiklen Verordnungen bei regulär Versicherten. Normale Praxisärzte seien oft noch weniger als Ärzte in Hausarztmodellen geschult, Medikamente sparsam einzusetzen.
Im Durchschnitt nimmt jeder Studienteilnehmer über 65 Jahre zehn verschiedene Medikamente gleichzeitig. Nebenwirkungen sind häufig: 38 Prozent der Patienten, die vier verschiedene Präparate einnehmen, erleben, dass sich diese gegenseitig negativ beeinflussen. Bei Patienten, die mindestens sieben Medikamente gleichzeitig erhalten, sind es sogar 82 Prozent. Das zeigte eine weitere Schweizer Studie, die im letzten Jahr in der Fachzeitschrift «Drugs Aging» erschienen ist.
Zusätzliche finanzielle Belastung für die Krankenkassen
Zu viel Medizin schadet vor allem älteren Menschen. Denn ihr Körper baut Arzneistoffe generell langsamer ab. Daher haben sie mehr Neben- und Wechselwirkungen als jüngere Patienten. Zudem sind viele Dosierungsempfehlungen nicht auf Senioren abgestimmt. Denn viele Hersteller testen, um bessere Ergebnisse zu erzielen, ihre Medikamente bevorzugt an jüngeren Männern (saldo 15/14).
Die aktuelle PLOS-Studie zeigt die Folgen: Wer nur schon einen einzigen potenziellen Krankmacher einnimmt, hat ein 13 Prozent höheres Risiko, im Spital zu landen, als andere Patienten. Aufgrund der unangepassten Medikamente kommt es laut Rosemann «immer wieder zu Todesfällen».
Die Krankmacher sind zudem Kostentreiber: Die Ausgaben für die 15 am häufigsten verschriebenen heiklen Medikamente für Ältere belasten gemäss der letztjährigen Studie die Krankenkassen in der Grundversicherung mit rund 50 Millionen Franken pro Jahr.
Medikamentenstopp bessert oft das Befinden
Hinzu kommen Kosten für Arztbehandlungen und Hospitalisierungen, die Mitautor Oliver Reich von der Helsana auf weitere «100 Millionen Franken» pro Jahr schätzt.
Laut Rosemann lassen sich «die meisten heiklen Medikamente durch andere ersetzen – oder weglassen». So verzichtete ein israelischer Forscher für eine 2010 publizierte Studie bei 70 geriatrischen Patienten im Durchschnittsalter von fast 83 Jahren auf 80 Prozent der verschriebenen Medikamente. Der 19-monatige Medikamentenstopp hatte laut dem Forscher keine negativen Folgen für die Gesundheit der Patienten. Die Ärzte mussten nur bei 2 Prozent der Medikamente die Streichung aufheben. 88 Prozent der Patienten beurteilten ihren Gesundheitszustand am Ende der Studie als besser als zuvor.
Ähnliches berichtet der Zuger Hausarzt Stefan Neuner-Jehle im Fachblatt «Praxis»: 14 beteiligte Hausärzte liessen bei total 63 Patienten 9 Prozent der bisher verordneten Medikamente weg – ohne Folgen.
Experte Rosemann appelliert an die Ärzte, sich bei jeder Verordnung für ältere Patienten zu fragen: Ist das Medikament wirklich nötig? Verträgt es sich mit den anderen Mitteln, die mein Patient einnimmt? Dem Arzt kann dabei auch eine Software helfen, die vor Fehlern und Risiken warnt. Die deutsche Pharmakologie-Professorin Petra Thürmann von der Privatuniversität Witten rät Ärzten zudem, zuerst die Medikamentenliste zu überprüfen, wenn ein älterer Patient öfter stürzt oder plötzlich verwirrt oder vergesslich wirkt.
Apotheken machen für Patienten einen Risiko-Check
Auch Patienten können etwas tun. Apotheker bieten laut ihrem Verband Pharmasuisse sogenannte «Polymedikations-Checks» an: Sie kontrollieren die Verschreibungen eines Patienten und beraten ihn, um Risiken zu vermeiden. Die Krankenversicherer übernehmen die Kosten der Beratung, wenn der Patient seit drei Monaten vier oder mehr kassenpflichtige, ärztlich verordnete Medikamente einnimmt.
Ältere Menschen: Ungeeignete Medikamente
Zur Verträglichkeit von Medikamenten für ältere Menschen gibt es international anerkannte Warnlisten. Unter anderem die sogenannte Priscus-Liste. Sie listet 83 Medikamente auf, die sich für ältere Menschen nicht eignen. Einige Beispiele:
- Viele Medikamente machen schläfrig und reduzieren die Aufmerksamkeit und Denkfähigkeit älterer Patienten. Dies begünstigt Stürze und Hüftbrüche. Zu den Auslösern zählen oft verschriebene Schlafmittel wie Zolpidem oder Präparate aus der Gruppe der Benzodiazepine, Blasenmittel wie Ditropan, klassische Antidepressiva wie Saroten, Sinquan, Surmontil oder Tofranil sowie Nifedipin-haltige Blutdrucksenker wie Adalat oder Generika, die einen schnellen Blutdruckabfall verursachen können.
- Entzündungshemmende Mittel wie Voltaren führen zu vielen Hospitalisierungen. Überflüssig sind Voltaren-Spritzen bei Rückenschmerzen. Sie wirken nicht besser als Tabletten, verursachen aber mehr Allergien und Infektionen.
- Antibiotika wie Furadantin helfen gegen Harnwegsinfektionen, können aber die Nierenfunktion schwächen, die im Alter ohnehin nachlässt.
- Antihistaminika wie Atarax oder Tavegyl kommen gegen Nervosität, Heuschnupfen und allergische Erkrankungen zum Einsatz. Sie können die Aufmerksamkeit des Patienten verringern. Dasselbe gilt für Blutdruckmittel wie Brinerdin oder Catapresan.
- Arzneimittel gegen Blutgerinnsel wie Efient können die Leber angreifen und besonders bei älteren Menschen das Blutungsrisiko erhöhen.