Am 18. Mai stimmen die Schweizer über die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften ab. Sie fordert für alle Angestellten einen Monatslohn von brutto mindestens 4000 Franken inklusive 13. Monatslohn, für Teilzeitbeschäftigte entsprechend ihrem Pensum weniger. Pro Stunde ergibt das ein Minimum von rund 22 Franken.
Vertreter der Wirtschaftsverbände laufen dagegen Sturm. Sie prophezeien steigende Preise und mehr Arbeitslose. Entsprechend lauten die Presseschlagzeilen: «Wie der Mindestlohn aufs Portemonnaie durchschlägt» oder «Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze».
saldo wollte wissen, ob die Konsumenten mit höheren Preisen rechnen müssen, falls alle Angestellten in der Schweiz wenigstens den geforderten Mindestlohn erhalten. Ein Blick in Statistiken und Buchhaltungen von Kleinbetrieben zeigt: Dies wäre kaum der Fall. Die Behauptungen der Initiativgegner sind weit übertrieben.
Gastgewerbe
- Beispiel 1: Ein Café Crème im Restaurant würde bei Annahme der Initiative im ungünstigsten Fall höchstens 10 Rappen teurer. Das hat Beat Baumann, Ökonom bei der Gewerkschaft Unia berechnet. Er bezieht sich bei seinen Berechnungen auf Erhebungen des Bundesamtes für Statistik sowie des Bundesamtes für Sozialversicherungen. Laut Unia sind bis 2018 im Gastgewerbe ohnehin fast alle Ziele der Mindestlohninitiative erfüllt. Grund ist die Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags (GAV) mit der Einführung des 13. Monatslohns. Der seit 2012 geltende neue GAV lässt nur noch für ungelernte Beschäftigte Löhne unter 4000 Franken zu. In Kleinstbetrieben mit bis zu vier Angestellten ist die Differenz zu den geforderten 22 Franken pro Stunde am grössten.
Und hier – im ungünstigsten Fall – sähe die Rechnung so aus: Bei vier ungelernten Mitarbeitern käme es zu zusätzlichen 1008 Franken Lohnkosten pro Monat (252 Franken pro Person). Mit Arbeitgeberbeiträgen wären das im Jahr Mehrkosten von 13 896 Franken. Das entspricht 6,4 Prozent der Lohnsumme von 217 125 Franken. Der Anteil Lohn- und Sozialversicherungsausgaben an den Gesamtkosten beträgt in dieser Branche durchschnittlich 40,4 Prozent. Die konkreten Ausgaben dieses Betriebs belaufen sich somit auf rund 537 000 Franken. Die jährlichen Lohnmehrkosten von 13 896 Franken machen im Verhältnis zu diesen Gesamtkosten 2,6 Prozent aus. Bei einem Kaffeepreis von 4 Franken ergibt das für den Patron Zusatzkosten von 10,4 Rappen. Das heisst: Ein Café Crème würde in diesem Café gerade mal 10 Rappen teurer.
saldo konfrontierte in einer Zentralschweizer Agglomerationsgemeinde eine Bäckerei mit angeschlossenem Café mit dieser Kalkulation. «Beim Kaffee aufschlagen! Sicher nicht!», sagt der Chef dazu. Das sei auch gar nicht nötig. Denn er zahle seinen Verkäuferinnen und Serviertöchtern schon heute mehr als 4000 Franken im Monat. Für den Bäckermeister sind sie das Geld wert: «Diese Leute stehen oft mehr als acht Stunden pro Tag auf den Beinen, arbeiten am Wochenende, müssen Kunden beraten und immer fröhlich sein.» Es könne nicht sein, dass Banker und Verwaltungsräte Millionensaläre kassieren und man dann nicht bereit sei, einen Mindestlohn von 4000 Franken zu zahlen. Umso mehr, als die Verkäuferin oder der Verkäufer die wichtigste Person im Betrieb sei. Heute kostet der Café Crème in diesem Café Fr. 4.20.
Coiffeurbranche
- Beispiel 2: Valentin Vogt, Präsident des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, geht von knapp 20 Prozent höheren Preisen für einen Coiffeurbesuch aus, wenn die Mindestlohninitiative angenommen wird. Laut Unia-Ökonom Baumann sind es in einem typischen Kleinbetrieb dieser Branche aber gerade mal 2 Prozent Mehrkosten, die auf den Kunden überwälzt werden müssten. Das macht bei einem Haarschnitt für 80 Franken einen Preisaufschlag von Fr. 1.60.
Die Rechnung: In einem Coiffeursalon arbeiten zwei Coiffeusen mit abgeschlossener Lehre. Sie verdienen aktuell 3800 Franken im Monat. Die zwei Lehrlinge erhalten zusammen 2000 Franken, die Chefin des Salons erhält 5400 Franken Lohn. Macht inklusive Lohnnebenkosten total 18 000 Franken.
In der Coiffeurbranche machen die Lohnkosten ungefähr die Hälfte der Betriebskosten aus. Ein Salon in dieser Grösse erwirtschaftet somit einen Umsatz von monatlich rund 36 000 Franken.
Bei Annahme der Mindestlohninitiative müssten die Löhne der beiden gelernten Coiffeusen um 7 Prozent angehoben werden. Das sind je 270 Franken pro Monat. Zuzüglich Lohnnebenkosten steigen die Kosten aufgerundet um 700 Franken. Vom Gesamtumsatz von 36 000 Franken pro Monat sind das gerade einmal 2 Prozent.
saldo sprach mit dem Patron eines Familienunternehmens mit mehreren Coiffeurfilialen. Er sagt: «Bei uns verdient jede Coiffeuse schon heute mehr, als die Initiative fordert.» Ende Monat hätten die Angestellten zwischen 5000 und 7500 Franken auf dem Lohnkonto. Seine Coiffeusen seien alle am Umsatz beteiligt. Einzig bei den Berufsanfängerinnen zahle er nach der Lehre während etwa sechs Monaten drauf. «Aber diese Investition lohnt sich.» Wenn ein Coiffeurgeschäft Mühe habe, einen Mindestlohn von 4000 Franken zu bezahlen, dann sei der Chef vielleicht ein guter Coiffeur, aber ein schlechter Kaufmann.
Uhrenindustrie
- Beispiel 3: Eine weitere Tieflohnbranche ist die Uhrenindustrie. Vorab im Tessin und im Jura verdienen viele Angestellte weniger als 4000 Franken. Wie viele es genau sind, wollte die Swatch-Gruppe, die weltweite Nummer eins in der Uhrenbranche, nicht bekanntgeben. Nach Schätzungen von saldo dürften es rund 2000 der total 16 000 Angestellten in der Schweiz sein. Auch in diesem Fall wäre ein Mindestlohn für das Unternehmen mit 8,8 Milliarden Franken Umsatz und einem Reingewinn im letzten Jahr von 1,93 Milliarden durchaus verkraftbar. Die Lohnsumme würde um 26 Millionen Franken pro Jahr zunehmen. Das sind gerade mal 1,3 Prozent des Gewinns. Und wenn der Milliardengewinn nicht angetastet werden dürfte, würden die zusätzlichen Lohnkosten bei 15 Millionen verkauften Uhren pro Jahr nur gerade Fr. 1.73 pro verkaufte Uhr ausmachen.
Swatch-Chef Nick Hayek wollte die saldo-Rechnung nicht kommentieren. Er sagte nur so viel: «Ich bin für Mindestlöhne, aber gegen diese Initiative.» Mindestlöhne sollte man laut Hayek nicht zentral für das ganze Land regeln, sondern in Gesamtarbeitsverträgen – regional und branchenspezifisch.
Lohn: 9 Prozent arbeiten für unter 22 Franken pro Stunde
Gemäss Bundesamt für Statistik und dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco erhalten in der Schweiz heute noch 329 000 Angestellte einen Stundenlohn von weniger als 22 Franken oder bei einer Vollzeitbeschäftigung weniger als 4000 Franken brutto im Monat. Das sind 9 Prozent von total knapp 3,6 Millionen Angestellten in der Schweiz.