Dachdecker Martin A. stürzte vor sechs Jahren von einem Dach. Er brach sich das Becken und die unteren Lendenwirbel. Nach einem dreiwöchigen Spitalaufenthalt war er für fünf Monate in der Rehaklinik Bellikon AG. Danach wurde er ambulant behandelt. Heute arbeitet A. wieder zu 80 Prozent. Ein Fall für die Unfallversicherung. Wäre er invalid geworden, hätte er Anspruch auf eine lebenslange Rente in der Höhe von 80 Prozent des letzten Lohnes.
Würde Martin A. nicht durch einen Unfall erwerbsunfähig, sondern durch eine Krankheit, hätte er bloss Anspruch auf eine weit tiefere Rente der Invalidenversicherung (IV) und nur bis 65. Zudem müsste er um seine Rente bangen. Denn bei der IV werden die Leistungen laufend abgebaut. Im Jahr 2010 strich die IV 3600 Renten, weitere 2000 kürzte sie (saldo 9/12). In den nächsten Jahren muss die IV nach dem Willen der Mehrheit des Parlaments 17 000 Renten überprüfen und möglichst viele davon streichen (saldo 1/13).
Begründet werden diese rigorosen Schritte mit der schlechten finanziellen Situation der IV: Sie hatte Ende letzten Jahres noch rund 9,3 Milliarden Franken Schulden, nachdem sie im Jahr vorher ein Geschenk der AHV in der Höhe von 5 Milliarden erhalten hatte.
Unfallversicherung: 44,8 Milliarden auf der hohen Kante
9,3 Milliarden sind viel Geld. Doch würden in der Schweiz alle Invaliden gleich behandelt, hätte es mehr als genug Geld in den Kassen. Aber die Politiker legen Wert auf die Unterscheidung von Krankheits- und Unfallinvaliden – obwohl dieser Unterschied den Juristen Kopfzerbrechen bereitet und die Grenze oft willkürlich gezogen wird (siehe Kasten).
Während den Krankheitsinvaliden 9,3 Milliarden fehlen, lagen für die Unfallinvaliden Ende 2011 nicht weniger als 44,8 Milliarden auf der hohen Kante – 38,55 Milliarden bei der Suva, der Rest bei den Privatversicherungen. Mit dem aus den Prämien der Angestellten angesparten Reichtum der Unfallversicherung könnte das ganze IV-Defizit auf einen Schlag getilgt und der AHV die 5 Milliarden zurückerstattet werden. Die obligatorische Unfallversicherung hätte dann immer noch 30 Milliarden auf der hohen Kante, die nicht gebraucht würden.
Die Unfallversicherungen nehmen Jahr für Jahr mehr Geld ein, als sie ausgeben. Das zeigen exemplarisch die Zahlen der Suva, der grössten Unfallversicherung. Total 1,943 Millionen Angestellte oder gut die Hälfte der Berufstätigen sind dort versichert.
Die Suva erzielte letztes Jahr einen Gewinn von 246,9 Millionen. Per Ende 2012 hatte sie Reserven von 41,9 Milliarden. Und sie legt das Geld höchst gewinnbringend an. 2012 resultierte eine Rendite auf dem Ersparten von 8,6 Prozent.
Das riesige Vermögen steigt und steigt seit Jahren (siehe Grafik). Denn die Suva nimmt regelmässig mehr ein, als sie auszahlen muss. Allein 2012 betrugen die Prämieneinnahmen 4,2 Milliarden Franken, die Auszahlungen für Renten, Kapitalleistungen, Taggelder und Pflegeleistungen nur 3,9 Milliarden. Und die Rentenzahlen sind rückläufig: Für das Jahr 2012 registriert die Suva 1584 neue Invalidenrenten – 8,3 Prozent weniger als im Vorjahr. Noch deutlicher ist der Rückgang bei den Rentenkosten. Er beträgt 9,3 Prozent. Die 1584 neuen Invalidenrenten sind der tiefste Wert seit der Einführung der obligatorischen Unfallversicherung im Jahre 1984. Seit dem Höchststand von 3357 neuen Renten im Jahr 2003 reduzierte sich die Zahl um 52,8 Prozent.
Das hohe Anlagevermögen wäre gar nicht nötig
Das wirkt sich auch auf der Kostenseite aus: Letztes Jahr musste die Suva 437,5 Millionen Franken zurückstellen, um die Renten zu finanzieren. Das sind 9,3 Prozent oder 44,9 Millionen weniger als im Vorjahr und nicht einmal halb so viel wie 2003. Die Zahlen stammen von der Suva. Sie belegen, dass das gigantisch hohe Anlagevermögen von 42 Milliarden aus Sicherheitsgründen keineswegs zwingend ist.
Mit einem geschickten Schachzug verhindert die Suva, dass ihr von der Politik ins goldene Handwerk gepfuscht wird: Der Verwaltungsrat setzt sich aus rekordhohen 40 Köpfen zusammen: 16 Vertreter von Gewerkschaften und Angestelltenverbänden, 16 Arbeitgebervertreter und 8 Vertreter des Bundes. Sie sorgen dafür, dass von links bis rechts niemand ihr Vermögen antasten will. Das ist Pech für diejenigen, deren IV-Renten gekürzt oder gestrichen werden, weil angeblich zu wenig Geld für die Invaliden zur Verfügung steht.
Bei der Suva heisst es zur Idee einer Fusion mit der IV nur: «Dazu nimmt die Suva nicht Stellung. Sie beschränkt sich darauf, Ihren gesetzlichen Auftrag zu erfüllen.»
Unfall oder Krankheit? Das sagen die Gerichte
Bei jedem Gesundheitsschaden muss wegen der Versicherungen zuerst abgeklärt werden, ob es sich um einen Unfall oder eine Krankheit handelt. Grundsätzlich gilt: Eine Krankheit hat einen schleichenden Verlauf, ein Unfall hingegen wird als plötzliche Einwirkung von aussen definiert.
Doch im Einzelfall ist die Unterscheidung eine komplexe Sache: Erkrankungen nach Tierbissen oder Insektenstichen gelten zum Beispiel als Unfall – ausser die Malaria-Übertragung. Abnützungserscheinungen sind keine Unfälle, sie haben Krankheitscharakter.
Wer sich beim Aufschlagen des Kopfs gegen das Lenkrad eines Autoscooters eine Zahnverletzung zuzieht, erleidet nach aktueller Rechtsprechung einen Unfall. Noch vor ein paar Jahren entschied das Bundesgericht genau umgekehrt.
Verletzungen von Zähnen sind oft Juristenfutter. Wer beim Essen einen Zahn beschädigt, erhält den Schaden unter Umständen von der Unfallversicherung ersetzt. Voraussetzung ist, dass er auf etwas Ungewöhnliches gebissen hat. Also auf einen Fremdkörper im Nahrungsmittel, der darin normalerweise nichts zu suchen hat. Zum Beispiel: Knochensplitter in Würsten, nicht entsteinte Oliven in Eintopfgerichten, Nussschalen in Nussbrot, Fruchtsteine in Fruchtkuchen oder Steinchen in Reisgerichten.
Einen Unfall verneint haben Gerichte in folgenden Fällen: Knochensplitter in Lamm- oder Kaninchenvoressen, Deko- Perlen auf Torte, nicht geplatztes Maiskorn im Popcorn, Schrotkügelchen im Hirschpfeffer, Knorpel in Wurstwaren, Figur in Dreikönigskuchen.
Versicherungstechnisch um einen Unfall handelt es sich bei sogenannt unfallähnlichen Körperschäden wie Knochenbrüche, Verrenkungen von Gelenken, Meniskusrisse, Muskelrisse, Muskelzerrungen, Sehnenrisse oder Verletzungen des Trommelfells.