Doug Leith, Professor für Computersysteme, und sein Kollege Stephen Farrell arbeiten am renommierten Trinity-College in Dublin. Sie sind sich einig: «Corona-Apps messen in Trams und Bussen nicht zuverlässig, wie weit zwei App- Nutzer voneinander entfernt sind.» Leith und Farrell publizierten im Juni zwei Studien zum Thema.
Die Forscher testeten in Trams und Pendler-Bussen eine Corona-App, wie sie in der Schweiz, Deutschland und Italien zur Anwendung kommt. Sie massen zum Beispiel in einem Dubliner Tram in verschiedenen Positionen jeweils 15 Minuten lang die Signalstärke der App zwischen zwei Nutzern. Bei der Hälfte der insgesamt 108 Tests war der Abstand zwischen den beiden App-Nutzern kleiner als zwei Meter. Die Forscher wandten auf die gesammelten Daten den Algorithmus der Swiss-Covid-App des Bundes an. Diese sollte jedes Mal eine Meldung auslösen, wenn sich ein App-Nutzer pro Tag mindestens 15 Minuten lang mit einem Abstand von weniger als 1,5 Metern in der Nähe einer infizierten Person befand. Die App erkannte jedoch keine der 54 Messungen im Tram als Treffer.
Laut den irischen Forschern liegt das daran, dass die Swiss-Covid-App aus der erfassten Signalstärke in Tram oder Bus nicht zuverlässig ableiten kann, wie weit das sendende Smartphone entfernt ist. Der App gehen dadurch viele Fälle durch die Lappen, bei denen jemand einer möglicherweise infizierten Person zu lange zu nah kam.
Studienautor Doug Leith führt die Defizite der App gegenüber saldo vor allem auf die Bluetooth-Technik zurück. So kann das Metall in Wänden, Böden und Sitzen von Trams und Bussen die Bluetooth-Signale reflektieren. Auch menschliche Körper beeinflussen deren Ausbreitung. Die Stärke der Wellen ändert sich auch, wenn ein Nutzer sein Smartphone aus der Tasche holt oder dort verstaut. Die Schweizer Algorithmen zur Auswertung der Daten berücksichtigten diese Faktoren nur ungenügend. Das Gleiche gelte für die deutsche und die italienische Anwendung. Experte Doug Leith erklärt das damit, dass die Entwickler die App vor allem unter Laborbedingungen testeten.
Bluetooth-Technik nicht für Abstandsmessung geeignet
Auch Forscher der Universität Marburg (D) stellten bei Tests fest, dass sich die Bluetooth-Abstandsmessungen der App in der Praxis stark von denen im Labor unterschieden. Hannes Federrath, Informatikprofessor an der Universität Hamburg (D), bestätigt auf Anfrage von saldo, dass sich Bluetooth-Signale vor allem in metallischen Räumen wie im öffentlichen Verkehr stark verändern. Der Grund dafür sei einfach: Die Bluetooth-Technik sei nicht zur Abstandsmessung entwickelt worden.
Von diesen Ergebnissen will das Bundesamt für Gesundheit nichts wissen. Sprecher Marco Stücheli beharrt gegenüber saldo auf der Feststellung: «Die Swiss-Covid-App funktioniert.» Die Kalibrierung sei am 6. Juli angepasst worden, um eine höhere Treffsicherheit zu erreichen. Die Kalibrierung sei heute deshalb «deutlich genauer» als früher. Laut dem Behördensprecher sei die irische Studie daher «nicht mehr relevant».
Studienautor Leith ist anderer Ansicht: Die Kalibrierung der Warn-App durch Hersteller Google könne die aufgedeckten Probleme nicht lösen: «Diese liegen an der Physik von Bluetooth und sind nicht so leicht zu beseitigen.»
André Golliez, Präsident der Branchenvereinigung Swiss Data Alliance, und Martin Steiger von der Digitalen Gesellschaft fordern: Das Bundesamt sollte sich «intensiv» mit den Studienergebnissen beschäftigen, um die Swiss-Covid-App zu verbessern. Das Bundesamt müsste zudem die Daten seiner App-Abstandsmessungen veröffentlichen.
BAG: Sonntags war keiner da
Zwei Tage lang wartete ein Schüler aus dem Kanton Luzern, der positiv getestet worden war, bis ihm das Bundesamt für Gesundheit den Corona-Code mitteilte. Nur wenn man den zwölfstelligen Zahlencode in die Warn-App eingibt, kann sie Personen warnen, die enger Kontakt mit der infizierten Person hatten.
Doch der Bub hatte laut seiner Mutter das Pech, dass «beim Bundesamt sonntags niemand da ist, der den Code vergibt».
Das ist kein Einzelfall: Gesundheitsbehörden informieren Getestete häufig nur mit Zeitverzögerung über ihre Infektion. Folge: Übertragungsketten werden nicht so früh unterbrochen, wie es eigentlich möglich und nötig wäre.
Das kann allerdings auch passieren, wenn Behörden positiv getestete App-Nutzer rechtzeitig alarmieren. Das Bundesamt verschickte vom 1. Juli bis 23. August nach eigenen Angaben 1418 Corona-Codes an App-Nutzer. Nur 938 Empfänger gaben den Code ein, um die Leute zu informieren, die sie möglicherweise in den Tagen zuvor infiziert hatten. Sprich: Einer von drei Infizierten nutzte die App nicht, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen.