Viele Leute kennen das: Heben sie den ausgestreckten Arm seitlich an, setzen spätestens ab einem Winkel von 90 Grad heftige Schmerzen ein. Die Ärzte sprechen vom Engpasssyndrom. Der Schmerz entstehe, weil Sehnen und Schleimbeutel bei der Bewegung gequetscht würden. Denn unter dem vorderen grossen Knochenfortsatz des Schulterblatts sei zu wenig Platz. Die Lösung ist simpel: Raum unter dem Schulterblatt schaffen. Dazu entfernen die Chirurgen etwas Knochen und Gewebe. Dazu benutzen sie die Operationstechnik Arthroskopie.
Der Haken: Den meisten Patienten nützt die Operation nicht mehr, als wenn sie darauf verzichtet hätten. Das zeigt eine Studie des englischen Orthopäden Andrew Carr von der Universität Oxford im Fachmagazin «Lancet» vom November 2017. Für ihre Untersuchung teilten er und sein Team über 300 Patienten per Los in drei Gruppen auf: Die einen operierten sie. Bei anderen täuschten sie eine Operation vor, ohne Gewebe zu entfernen. Eine dritte Gruppe erhielt keine Operation. Die Forscher untersuchten alle Patienten nach einem halben und einem Jahr. Ergebnis: Den Operierten ging es nicht besser als den anderen Testpersonen. Alle hatten etwas weniger Schmerzen. Die Autoren führen das auf die Physiotherapien nach dem Eingriff und den Placebo-Effekt zurück.
In einem Kommentar zur Studie fordern holländische Forscher, dass diese Ergebnisse «die tägliche Praxis verändern» sollten. In den Niederlanden ist das passiert. Die Leitlinien der Orthopädischen Gesellschaft empfehlen seit 2013, vor allem auf nicht-operative Behandlungen zu setzen. Dazu gehören Physiotherapien, Medikamente und Muskeltraining. Die Zahl der Eingriffe sank von 2012 bis 2016 um 40 Prozent.
Deutsche Krankenkassen zahlen solche Eingriffe nicht mehr
Anders in der Schweiz: Laut Bundesamt für Statistik führten die Spitäler im Jahr 2017 über 11 000 stationäre Schulterdach-Erweiterungen durch. Das waren rund 4000 mehr als fünf Jahre zuvor. Über die Zahl der ambulanten Eingriffe weiss das Bundesamt nichts. Laut der Krankenkasse Helsana kostet jede stationäre Operation im Durchschnitt 7300 Franken. Für zehn Stunden Physiotherapie zahlt man etwa 1000 Franken.
Viele Ärzte foutieren sich auch um neue Erkenntnisse zur Knie-Arthroskopie. Beispiel «Gelenktoilette»: Dabei untersuchen Ärzte bei Arthrose-Patienten den beschädigten Knorpel im Knie per Minikamera und spülen das Gelenk aus. Oft glätten sie den Knorpel und entfernen totes Gewebe. Das soll die Schmerzen lindern und das Knie beweglicher machen. Eine US-Studie aus dem Jahr 2002 kam zum Schluss, dass die Behandelten zwei Jahre nach dem Eingriff nicht weniger Schmerzen hatten als Patienten nach einer Scheinoperation. 2014 kam das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in Köln (D) nach Auswertung aller bekannten Studien zum gleichen Schluss. Deutsche Krankenkassen zahlen solche Eingriffe seit April 2016 nicht mehr.
In der Schweiz führten die Spitalärzte vorletztes Jahr 775 stationäre Gelenkspülungen und 2130 Gewebeentfernungen durch. Die Zahl ist seit 2013 fast unverändert. Für eine Gelenkspülung bekommen die Spitäler laut der Kasse Helsana im Durchschnitt 15 800 Franken und pro Gewebeentfernung 7100 Franken. Auch bei Kniearthrose empfehlen Studien vorrangig Physiotherapien und mehr Bewegung.
Wenig Wirkung zeigt die Kritik an den häufigsten Eingriffen am Knie: Bei 18 422 Patienten entfernten Ärzte in Spitälern im Jahr 2017 einen beschädigten Meniskus teilweise per Arthroskopie. «Die Zahl ist weiterhin massiv zu hoch», sagt Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich. Denn die Operation bringe bei einem abgenutzten Meniskus gar nichts. Nur Patienten mit akutem Meniskusschaden aufgrund eines Unfalls profitierten wahrscheinlich. Das sei aber nur ein «verschwindend kleiner Prozentsatz». Auch frühere Studien bescheinigen der Operation keinen Zusatznutzen gegenüber Physiotherapien oder Medikamenten (saldo 17/2018). Das Spital bekommt laut Helsana pro Knie-arthroskopie rund 4000 Franken.
Alle vier Eingriffe kosten 182 Millionen Franken – pro Jahr
Die vier häufig unnötigen stationären Eingriffe im Spital an Schulter und Knie verursachen pro Jahr geschätzte Kosten in der Höhe von 182 Millionen Franken. Davon zahlen die Krankenkassen 82 Millionen Franken, die Kantone 100 Millionen. Diese Zahlen basieren auf Angaben der Helsana.
Für Thomas Rosemann ist klar: «Die meisten Eingriffe sind unnötig.» Sie verursachten nicht selten mehr Schaden als Nutzen. Zum Beispiel könne die Schulter nach der Operation leicht versteifen. Und es bestehe die Gefahr von Infektionen. Den Medizinprofessor ärgert, dass «sich neue Forschungserkenntnisse nicht durchsetzen, solange sie den finanziellen Interessen der Ärzte und Spitäler entgegenstehen».