Mittags um 12 Uhr in einem grauen Industriegebäude in Zürich-Altstetten. Unter Neonröhren sitzen zwölf Männer und sieben Frauen vor dem Computer. Es ist die dritte Testschicht des Tages. Eine Frau in weissem Kittel und Latexhandschuhen verteilt Pommes frites. Zu den zehn Kartoffelstäbchen werden nummerierte Döschen mit Ketchup serviert.
Nestlé Schweiz will an diesem Oktobertag von 150 Konsumenten in Zürich und Lausanne wissen, wie ihnen ein neues Ketchup mit mehr Tomatenanteil und weniger Zucker schmeckt. Grund: Produkte mit weniger Zucker sind zwar gefragt, doch der Geschmack ist oft weniger intensiv. Deshalb kann ein solches Produkt zum Flop werden.
100 Deutschschweizer und 50 Romands für den Test ausgewählt
Lebensmittelkonzerne wie Nestlé investieren viel Geld in ein neues Produkt. Sie fragen Testesser, wie es ihnen schmeckt, wie die Verpackung aussehen soll oder wie viel sie für das Produkt bezahlen würden. Selbst Forscher namhafter Universitäten machen sich auf die Suche nach dem Geheimnis des guten Geschmacks. Ihre Resultate sind für die Lebensmittelindustrie Gold wert.
Nestlé Schweiz tüftelte zuerst zwei Jahre am neuen Thomy-Ketchup. Um einen Flop zu vermeiden, will das Unternehmen darauf das Geschmacksurteil von 100 Deutschschweizern und 50 Romands einholen. Die Testpersonen müssen zwischen 18 und 60 Jahre alt sein und mehrmals pro Monat Ketchup essen. Frauen und Männer sind hälftig vertreten. Die Namen der Personen erhält Nestlé von der Firma Sam mit Sitz in München. Sie hat eine Datenbank mit rund 8000 Personen, die an solchen Tests mitmachen. Jeder Teilnehmer erhält für den einstündigen Einsatz 25 Franken.
Eine Instruktorin erklärt den Testern das Vorgehen: «Nach jedem Durchgang müssen Sie einen geschmacksneutralen Cracker und Wasser zu sich nehmen, um gut zu neutralisieren.» Sechs Ketchups werden blind degustiert, zwei davon sind von Nestlé. Ein Computer gibt die Fragen vor: Er will von den Konsumenten wissen, ob der Tomatengeschmack der Nummer 726 «viel zu wenig intensiv», «etwas zu intensiv» oder «gerade richtig ist»; ob Nummer 235 «viel zu süss» ist oder ob man das Produkt 350 «sicher nicht» oder «wahrscheinlich» doch kaufen würde, wenn es «zu einem angemessenen Preis erhältlich wäre».
Die Antworten auf die Fragen tippen die Teilnehmer in den Computer. Das Testprogramm führt durch den Katalog von jeweils zwölf Fragen. Zu bewerten sind Aussehen, Farbe, Geruch, Konsistenz und Geschmack. Zudem sollen die Tester sagen, wie salzig, süss, sauer, würzig oder fad sie das Ketchup finden. Ihr Urteil zählt: «Wir produzieren das Produkt nur, wenn wir gleich gut sind wie der Marktführer oder mindestens 60 Prozent der Konsumenten unser Produkt besser bewerten als die Konkurrenzprodukte», sagt Miguel Serrano, Chef Kulinarik von Nestlé Schweiz. «Bewerten die Konsumenten das Produkt schlecht, ändern wir das Rezept.»
Das Ketchup-Rezept wird vor der Lancierung leicht angepasst
Die Thomy-Kräutermayonnaise schnitt einst nicht klar besser ab als jene der Migros. Deshalb änderten die Lebensmitteltechnologen bei Thomy in Basel die Rezeptur.
Das neue Ketchup hingegen hat die Degustation einigermassen gut überstanden. Es schnitt im zuckerreduzierten Segment am besten ab. 61 Prozent der Tester bewerteten es als besser als die Konkurrenz, sagt Nestlé. Allerdings sei der Unterschied zu den Hauptkonkurrenten klein.
Einem Teil der 150 Tester war der Tomatengeschmack des neuen Nestlé-Produkts zu intensiv und das Ketchup zu wenig süss. Nach der Degustation ändert deshalb Nestlés Entwicklungsabteilung in Basel die Rezeptur leicht ab. Was genau verändert wird, sagt Nestlé nicht.
Doch zurück zum Test. Am Schluss stellt der Computer noch ein paar Fragen zu den Konsumgewohnheiten bei Ketchup. Die Testpersonen können angeben, ob Sie den Ausdruck «zuckerarm», «weniger Zucker» oder «light» bevorzugen. Nestlé will auch wissen, ob sie für ein Ketchup mit mehr Tomaten und weniger Zucker mehr zahlen würden. Die Skala der möglichen Antworten reicht von 2.85 Franken bis zu 11.40 Franken pro Flasche. Laut Nestlé sind die Antworten auf diese Frage nur ein Indikator für die Preisfestsetzung. Den Verkaufspreis bestimme Coop.
Zum Schluss fragt Nestlé, wie denn die Verpackung aussehen soll: Auf dem Bildschirm erscheinen drei fast gleiche Ketchupflaschen, die sich nur durch die Werbeaufschriften unterscheiden: «+Tomato; –Zucker» kämpft gegen «87 % Tomato & Zucker reduziert» und «Extra Tomato & Zucker reduziert». Vorschlag Nummer 1 gewinnt.
Seit April steht das neue Thomy-Ketchup nun in den Coop-Regalen. Nach der Einführungsphase kostet die 220-Milliliter-Flasche Fr. 3.20. Auf 100 Milliliter umgerechnet ist das zehn Mal teurer als Coops Prix-Garantie-Ketchup oder das M-Budget-Ketchup von Migros.
Degustationen: Vermessung des Geschmacks im Gehirn
Forscher des deutschen Fraunhofer-Instituts versuchen zurzeit zu entschlüsseln, wie das Gehirn entscheidet, ob ein Lebensmittel gut oder schlecht schmeckt. Professorin Andrea Büttner: «Das Gehirn gleicht kontinuierlich ab, ob ein Geschmack passt oder nicht.» Noch betreiben die Wissenschafter Grundlagenforschung. Sie wissen zwar, in welcher Region das Gehirn den Geschmack verarbeitet. Doch eine hohe Aktivität dieser Region heisst nicht zwingend, dass es dem Probanden geschmeckt hat.
Einerseits misst das Fraunhofer-Institut die Hirnströme. Die Versuchspersonen liegen mit fixiertem Kopf in einem Scanner. Zugleich durchfluten unterschiedliche Gerüche den Raum. Laut Büttner kommt man mit Gehirnstrommessungen allein dem Geheimnis des Geschmacks nicht auf die Spur. Deshalb mache man gleichzeitig sensorische und chemische Analysen, Konsumentenbefragungen sowie Experteninterviews.