Frieda Muntwyler, Zürich: (Name geändert)
«Ohne Geld vereinsamt man»
«Ich bin Serviceangestellte und arbeite seit sieben Jahren in einem Restaurant in Zürich im Stundenlohn. Vor Corona verdiente ich inklusive Trinkgeld zwischen 2000 und 2500 Franken netto im Monat. Damit kam ich ganz gut zurecht.
Während der Coronazeit wurde ich auf Kurzarbeit gesetzt. Das war für mich verhängnisvoll, weil mein Arbeitgeber mir nur noch 500 Franken pro Monat zahlte. Damit konnte ich nicht einmal mehr meine Wohnungsmiete von 900 Franken zahlen. Vor Corona fiel ich krankheitsbedingt mehrere Wochen aus. Trotz Arztzeugnis wurde diese Zeit nicht angerechnet. Ich landete auf dem Sozialamt.
Heute läuft das Restaurant wieder gut. Ich habe Arbeit, aber das Geld fliesst direkt zum Sozialamt, unabhängig davon, wie viel ich verdiene. Sogar das Trinkgeld muss ich abgeben. Vom Amt erhalte ich jeden Monat 1400 Franken. Das muss für alles reichen, für Miete und Essen. Einzig die Krankenkasse wird mir bezahlt.
Eine Woche vor Monatsende ist das Geld meist aufgebraucht. Vieles ist teurer geworden. Zum Beispiel Kerzen, die ich liebe, kosteten bei Coop vor Corona Fr. 4.50 für 50 Stück – jetzt plötzlich 9 Franken. Früher kaufte ich mir sieben Pfirsiche beim Wocheneinkauf, heute nehme ich nur noch zwei.
Wenn kein Geld mehr da ist, stehe ich in Zürich in der Schlange bei ‹Schwester Ariane’s Essensausgabe›. Das ist beschämend für mich, geht aber nicht anders. Schwester Ariane ist wichtig für mich. Wenn ich verzweifelt bin, nimmt sie mich in die Arme und tröstet mich: ‹Ich werde dich nicht im Stich lassen.›
Ohne Geld vereinsamt man. Aber ich mag niemandem erzählen, dass es mir finanziell schlecht geht. Ich schäme mich. Auch, weil ich es nicht gewohnt bin, kein Geld zu haben. Mit zwei, drei Kolleginnen habe ich noch per Whatsapp Kontakt. Ich treffe nur noch meine erwachsene Tochter und meine Enkelkinder. Mit den Geldsorgen gehe ich ins Bett, und am Morgen stehe ich mit ihnen wieder auf.
Wie lange geht das noch so weiter? Jedes Mal, wenn der Bundesrat wieder etwas beschliesst, zucke ich zusammen, weil ich befürchte, dass deshalb wieder weniger Leute ins Restaurant kommen. Die Leute, die bestimmen, haben Geld und sitzen im Bundeshaus – und denken nicht an Leute wie uns.»
Daniel Skoda, Winterthur:
«Einschränkungen sind wie Ohrfeigen»
«Ich dachte immer: Mir kann nichts passieren. Ich habe zwei krisensichere Jobs. Ich bin Masseur und dazu noch Allrounder in einem Restaurant im Nebenjob. Zusammen mit meiner Frau kamen wir bis vor der Trennung auf ein Monatseinkommen von 10 000 Franken. Doch dann kam Corona – und änderte alles. Jetzt muss ich mit 2000 bis 3000 Franken brutto auskommen.
Das Restaurant bleibt bis auf weiteres geschlossen. Die Beziehung mit meiner Frau ging in die Brüche. Das Geschäft mit den Massagen läuft bis heute nicht mehr richtig. Nach eineinhalb Jahren Corona-Einschränkungen weiss ich: Nichts ist sicher, es kann jeden treffen.
Vom Bund erhielt ich bis diesen Sommer 800 Franken Notfallentschädigung pro Monat. Das half, reichte aber nirgends hin. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben oft nur 100 bis 200 Franken für den ganzen Monat zum Leben. Auswärts essen ist tabu, Ferien liegen nicht drin. Lebensmittel kaufe ich im Caritas-Laden ein. Oder bei Grossverteilern eine halbe Stunde vor Ladenschluss, wenn die Produkte reduziert sind.
Manchmal wache ich nachts auf und kann nicht mehr schlafen. Gedanken drehen im Kopf: Wie komme ich da wieder raus? Unvorhergesehene Ausgaben bringen mich an den Rand: Kürzlich erhielt ich eine Zahnarztrechnung meines Sohnes über 1500 Franken. Wie soll ich das zahlen? Diese Rechnung werde ich in den nächsten zwei Jahren abstottern.
Jede Massnahme des Bundes, jede Einschränkung des öffentlichen Lebens ist für mich als Selbständigerwerbender einschneidend. Sie ist wie eine Ohrfeige. So auch die Zertifikatspflicht. Die Leute sind verunsichert und kommen weniger in die Massage. Was das für mich heisst, interessiert keinen. Ich zähle offenbar nicht.»
Fabrice Egger, Hindelbank BE:
«Von 1200 Franken kann keiner leben»
«Vor Corona machte ich rund 90 000 Franken Umsatz im Jahr. Ich bin selbständiger Tontechniker und sorge bei Veranstaltungen und Konzerten für den guten Ton. Zudem betreibe ich ein kleines Tonstudio. Letztes Jahr hätte ich die 100 000er-Marke knacken wollen, so der Plan. Doch plötzlich waren alle Konzerte verboten. Corona machte mir einen Strich durch die Rechnung.
Ich erhielt ab Mitte März 2020 bis August 2021 rund 1200 Franken Erwerbsersatz pro Monat. Nothilfe vom Bund erhielt ich nicht. Von 1200 Franken kann doch niemand leben. Mein Erspartes reichte für die ersten paar Monate.
Zum Glück musste ich in der ganzen Coronazeit keine Miete bezahlen. Meine Freundin übernahm sie. AHV und Steuern, die sich auf die Einkünfte im Vorjahr bezogen, musste ich trotzdem bezahlen – obwohl ich praktisch keine Einnahmen hatte. Das trieb mich fast in den Ruin.
Meine Freundin war Sozialarbeiterin. Sie riet mir, bei der Winterhilfe und anderen Stiftungen um Hilfe anzufragen. So kamen 10 000 Franken zusammen. Damit konnte ich die grössten Löcher stopfen. Ich wollte um keinen Preis zur Sozialhilfe gehen. Denn dann hätte ich auch noch meine Selbständigkeit verloren.
Ich ging auf Arbeitssuche, etwa bei Coop und Migros. Doch leider ohne Erfolg. Ich überlegte mir, auf einen krisensicheren Job umzusatteln – zum Beispiel die Polizeischule zu absolvieren. Vergangenen Dezember fand ich eine Anstellung in einem Corona-Testzentrum. Da verdiene ich um die 2000 Franken netto im Monat.
Jetzt endlich kann ich als Tontechniker wieder erste Veranstaltungen betreuen. Ich liebe meinen Job. Ich hoffe nur, dass es keine neuen Vorschriften mehr gibt, die den soeben angelaufenen Kulturbetrieb wieder stoppen.»
Die Verlierer von Corona
In der Coronazeit litten ausgerechnet Leute aus Niedriglohnbranchen wie Gastronomie oder Kultur am meisten: Sie verloren bis zu 30 Prozent der Einkünfte. Das zeigt eine SRG-Umfrage. Laut dem Bundesamt für Statistik erlitten 11,3 Prozent der Erwerbstätigen Einkommenseinbussen.
Corona traf auch Selbständige in Dienstleistungs- und Verkaufsberufen hart. Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Sie verloren 7000 Franken und kamen 2020 im Durchschnitt noch auf ein Jahresbruttoeinkommen von 36 000 Franken.
Die Winterhilfe unterstützt aktuell 50 000 Personen. 2019 waren es noch 32 000, die Hälfte davon Kinder. Die Caritas unterstützt heute doppelt so viele Leute wie vor Corona – über 100 000.