Jedes Jahr geben Konsumenten aus der Schweiz 4,8 Milliarden Franken im benachbarten Ausland für Einkäufe aus. Das sagen Zahlen des Marktforschungsunternehmens GFK. Besonders populär ist der Einkauf im günstigen Deutschland. Davon zeugen 17,6 Millionen Ausfuhrscheine, die Schweizer pro Jahr allein an den Grenzübergängen der Hauptzollämter Singen oder Lörrach abstempeln lassen. Damit erhalten Einkaufstouristen die deutsche Mehrwertsteuer von 7 oder 19 Prozent zurück. Gleichzeitig müssen sie bis zu einem Einkauf von 300 Franken keine Schweizer Mehrwertsteuer zahlen.
Vielen Schweizer Politikern ist diese Praxis ein Dorn im Auge. In den letzten Monaten gab es gleich vier parlamentarische Vorstösse mit dem Ziel, die Freigrenze aufzuheben und für die Bundeskasse mehr Mehrwertsteuereinnahmen einzutreiben. Doch der Bundesrat lehnt eine Senkung der Wertfreigrenze ab. Begründung: Diese würde Konsumenten kaum davon abhalten, im Ausland einzukaufen.
Die Finanzkommission des Nationalrats verlangt vom Bundesrat, er solle aufzeigen, was passiert, wenn alle Kunden eine Mehrwertsteuer bezahlen – entweder im jeweiligen Nachbarland oder in der Schweiz. Diesen Vorschlag begrüsst der Bundesrat.
Pikant: Diese Idee der Nationalräte stammt von der Interessengemeinschaft (IG) Detailhandel Schweiz. Ihr gehören Coop, Manor, Migros und Denner an. Unter dem Titel «Fairness bei der Mehrwertsteuer» schlägt die Lobby der Detailhändler eine Änderung der Zollverordnung vor: Privatpersonen sollen Waren bis zum Wert von 300 Franken nur noch dann mehrwertsteuerfrei einführen dürfen, wenn sie vorher die deutsche Mehrwertsteuer nicht zurückforderten.
Die IG beziffert die zusätzlichen Mehrwertsteuereinnahmen für den Bund auf 250 Millionen Franken. Die Vorlage könne «einfach auf Verordnungsebene» umgesetzt werden – das heisst ohne Mitsprache des Parlaments und der Bevölkerung.
Politiker mit Migros regelmässig im Gespräch
Coop, Migros & Co. lobbyieren eifrig für ihren Vorschlag. Schliesslich entgehen ihnen durch den Einkaufstourismus Einnahmen. Nationalrätin Margret Kiener Nellen (SP, BE), Präsidentin der Finanzkommission, räumt ein, dass die Kommission mit «relevanten Wirtschaftskreisen» im Gespräch ist. Auch Migros-Cheflobbyist Martin Schläpfer bestätigt, dass er sich regelmässig mit Kommissionsmitgliedern trifft. Dabei brachte er den «Lösungsvorschlag» aufs Tapet.
Schläpfer schätzt die Realisierungschancen des Anliegens als «nicht schlecht» ein. Es gehe nicht an, dass der Staat den Einkaufstourismus subventioniere, indem er an der Grenze auf die Erhebung tiefer Mehrwertsteuerbeträge verzichte. Der Schweizerische Bauernverband und der Schweizerische Gewerbeverband unterstützen das Vorhaben.
Nationalrat Sebastian Frehner (SVP, BS) ist Mitglied der Finanzkommission. Er stimmte gegen den Vorschlag. Er sieht darin eine «Abschottungsmassnahme», um die Preise in der Schweiz künstlich hoch zu halten. Profiteure seien grosse Detailhändler, Gewerbeverband und Bauern.
Oberzolldirektion: «Ökonomisch nicht vertretbarer Aufwand»
Laut der Oberzolldirektion würde sich eine solche Neuregelung kaum lohnen. Sie rechnet vor: Der Bundeskasse entgehen mit der heutigen Wertfreigrenze von 300 Franken und einem Mehrwertsteuersatz von 8 Prozent höchstens 24 Franken pro Einkauf. Bei einem Lebensmitteleinkauf gilt ein tieferer Mehrwertsteuersatz von 2,5 Prozent. Hier würden die Abgaben maximal Fr. 7.50 betragen.
Viele Reisende schöpfen den Freibetrag nicht voll aus – würden also noch weniger Abgaben zahlen. Ungewiss ist beim Vorschlag der Detailhändler auch, wie viele Einkaufstouristen im Endeffekt tatsächlich die Schweizer Mehrwertsteuer bezahlen müssten – nicht alle lassen sich die deutsche Mehrwertsteuer erstatten.
Die Oberzolldirektion befürchtet ausserdem einen «ökonomisch nicht vertretbaren Erhebungsaufwand». Es bräuchte viel mehr Personal. Und es wäre schwierig zu kontrollieren, wer noch die Schweizer Mehrwertsteuer bezahlen müsste. Die Infrastruktur müsste ausgebaut werden. Das heisst, es bräuchte zusätzliche Parkplätze, Schalter und Kassenterminals.
Fazit: Der Vorschlag von Migros & Co. würde hohe Kosten verursachen und wenig bewirken. Die im Vergleich tiefen Schweizer Mehrwertsteuersätze würden die Konsumenten kaum davon abhalten, jenseits der Grenze einzukaufen. Die Preisunterschiede zum Ausland sind zu gross: Schweizer Konsumenten zahlen für Lebensmittel wie Brot, Fleisch, Milch, Käse, Eier, Früchte, Gemüse und nichtalkoholische Getränke im Durchschnitt 66 Prozent mehr als EU-Bürger (saldo 17/2016).