Der optimierte Mensch
Die Biologin Verena Lütschg zeigt, wie Digitalisierung und Biotechnologie Arbeit, Freizeit und Beziehungen radikal verändern – und wie man trotzdem die Kontrolle behält.
Inhalt
saldo 05/2022
15.03.2022
Remo Leupin
Der britische Künstler Neil Harbisson sieht Farben nicht – er hört sie. Der 39-Jährige ist farbenblind. Nach zwei Jahrzehnten in der einfarbigen Welt beschloss er, sich eine Antenne in den Hinterkopf implantieren zu lassen. Eine darauf angebrachte Kamera filmt Farben und wandelt sie in Vibrationen um. Sie kann sich auch mit dem Internet verbinden. 2004 akzeptierte die britische Einwohnerbehörde die Antenne als Teil von Harbissons Kopf auf dem Passfoto. ...
Der britische Künstler Neil Harbisson sieht Farben nicht – er hört sie. Der 39-Jährige ist farbenblind. Nach zwei Jahrzehnten in der einfarbigen Welt beschloss er, sich eine Antenne in den Hinterkopf implantieren zu lassen. Eine darauf angebrachte Kamera filmt Farben und wandelt sie in Vibrationen um. Sie kann sich auch mit dem Internet verbinden. 2004 akzeptierte die britische Einwohnerbehörde die Antenne als Teil von Harbissons Kopf auf dem Passfoto.
Harbisson ist ein extremer Fall von Selbstoptimierung. Die Verbesserung des Menschen beginne bereits bei leistungssteigernden Medikamenten oder individuell angepasster Ernährung, schreibt die deutsche Molekularbiologin Verena Lütschg in ihrem neuen Buch «Über morgen». Der Mensch versuche zunehmend, sich zu optimieren und sein «Leben in Daten und Zahlen» zu packen. Aufhalten lasse sich diese Entwicklung nicht. «Aber wir können heute stärker denn je mitreden, gestalten und lenken.»
Anders als andere Bücher über neue Technologien setzt «Über morgen» nahe beim Alltag an: Welchen Einfluss haben Digitalisierung und Biotechnologie auf Beziehungen, Arbeit, Freizeit und Wohnen? Wie werden die Menschen künftig konsumieren, altern und sterben?
«Man muss keinen Slow-Wave-Kernreaktor bauen können, um mitzureden», schreibt Lütschg. Aber man müsse wissen, warum ein solcher Reaktor kaum radioaktiven Abfall hinterlasse, um sich eine fundierte Meinung zur Atomkraft zu bilden. «Und wir sollten verstehen, warum eine mit schlechten Daten trainierte künstliche Intelligenz hochgefährlich ist.» Ein anregendes Buch, das auch für Laien verständlich ist.
Verena Lütschg, «Über morgen», Heyne, München 2022, 320 Seiten, ca. Fr. 23.–