Seit Jahrzehnten verkünden Milchproduzenten, wie gesund ihr Produkt sei. «Milch macht müde Männer munter», lautete ein Werbespruch in den 50er-Jahren. Später behauptete Swissmilk, der Verband der Schweizer Milchproduzenten, Milch mache die Knochen stark. Milch sei gut für Körper und Gehirn, heisst es noch heute auf der Internetseite des Verbands. Die Milchproduzenten bekommen für die Werbung jedes Jahr rund 30 Millionen aus der Bundeskasse. Auch die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt drei Portionen Milch und Milchprodukte pro Tag als Teil einer gesunden Ernährung.
Doch der Mythos der gesunden Milch bröckelt:
Im vergangenen Jahr kam der US-Ernährungswissenschafter Walter C. Willett von der Harvard-Universität in Boston zum Schluss: «Es gibt keine wissenschaftliche Rechtfertigung, drei Portionen Milch pro Tag zu empfehlen.» Das würde nicht vor brüchigen Knochen schützen und hätte auch sonst keine wesentlichen Vorteile.
2019 ergab eine Übersichtsstudie der Universität Madrid: Wer viel Milch trinkt, erleidet nicht weniger Hüftbrüche wegen Osteoporose.
Das kanadische Gesundheitsamt strich Milchprodukte weitgehend aus seinen Empfehlungen für eine gesunde Ernährung. Belege würden fehlen, dass Milch besonders gesund sei.
Mögliches Risiko für Krebs in Brust oder Prostata
Der deutsche Mediziner Bodo Melnik von der Universität Osnabrück ist überzeugt, dass Milch sogar schaden kann. In der Fachzeitschrift «MMW – Fortschritte der Medizin» analysierte er kürzlich eine Reihe grosser Studien. Sie zeigten, dass Milch unter anderem das Risiko für Krebs in Prostata, Brust, Leber und Lymphdrüsen erhöhen kann. Wer regelmässig Milch trinkt, erkrankt laut einer Untersuchung der Universität Uppsala aus dem Jahr 2020 mit mehr als 80 000 Teilnehmern auch häufiger an der Parkinsonkrankheit. Auch für Kinder kann viel Milch Nachteile haben (siehe Box).
Mikro-Ribonukleinsäuren stimulieren Zellen zu stark
Mediziner Melnik führt das auf in der Milch enthaltene Mikro-Ribonukleinsäuren zurück. Das sind winzige Moleküle, die Kälber schnell wachsen lassen. Sie sind in der Milch so verpackt, dass sie die Verdauungssäfte überstehen und in den Körper gelangen. In Tests konnte man sie in Blut, Gewebe und Hirn von Labortieren nachweisen. Melnik: «Sie können auch im menschlichen Körper das Wachstum der Zellen überstimulieren.» Besser sei UHT-Milch. Diese werde deutlich höher erhitzt als Past-Milch. Das neutralisiere die problematischen Moleküle.
Etwas zurückhaltender argumentiert der deutsche Ernährungswissenschafter Martin Smollich vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein: Studien würden zwar einen Zusammenhang zwischen hohem Frischmilchkonsum und gewissen Krankheiten zeigen. Der letzte Beweis stehe aber noch aus, ob Milch tatsächlich die Ursache sei.
In einem Punkt sind sich die Fachleute einig: Fermentierte Milchprodukte wie Käse und Joghurt schaden der Gesundheit nicht – sie können sogar die Gesundheit fördern. So zeigte 2020 eine schwedische Übersichtsstudie mit rund 34 000 Frauen: Wer häufig fermentierte Milchprodukte ass, erkrankte seltener an Brustkrebs. Es gibt auch Hinweise, dass das Risiko für Diabetes Typ 2 sinkt.
Gesunde Ernährung geht auch ohne Milchprodukte. Smollich: «Es ist problemlos möglich, sich trotzdem mit genügend Eiweiss und Kalzium zu versorgen.» Viel mehr Eiweiss als in Milch steckt etwa in Linsen. Und Grünkohl und Rucola enthalten viel Kalzium (siehe Tabelle Im PDF).
Die Gesellschaft für Ernährung bestätigt zwar Smollichs Aussage. Die Empfehlung des Vereins beruhe aber unter anderem darauf, dass Milch und Milchprodukte in der Schweiz «traditionell wichtige Lebensmittel» seien, um den Bedarf zu decken. Man könne davon ausgehen, dass sie in den empfohlenen Mengen sicher seien. Swissmilk beruft sich auf eine Studienanalyse der Eidgenössischen Ernährungskommission. Diese kam zum Schluss, dass drei Portionen Milch und Milchprodukte pro Tag sinnvoll seien.
Milch kann für Kinder Nachteile haben
Studien bei Kindern zeigen einen Zusammenhang von hohem Milchkonsum und:
- Gewicht und Grösse: Zwei- bis Vierjährige leiden häufiger unter Übergewicht. Zudem wachsen sie zu schnell. Joghurt und Käse haben dagegen keinen Einfluss.
- Akne: Laut einer dänischen Studie von 2018 steigt das Risiko schon ab zwei Gläsern pro Woche.
- Frühe Menstruation: Mädchen kommen früher in die Pubertät. Das erhöht bei ihnen das Risiko, später einmal an Brustkrebs zu erkranken.