Die Schweizer Behörden zwingen Swisscom & Co. zur Speicherung einer ganzen Reihe von Daten ihrer Kunden. Dazu ist weder eine Begründung noch ein Verdacht auf strafbare Handlungen vorausgesetzt. Die Speicherung der Daten der gesamten Bevölkerung während sechs Monaten erfolgt auf Vorrat.
Gespeichert wird, wann, wo, wie und mit wem die Schweizer übers Internet, Handy oder Festnetz kommunizieren. Die Daten werden von den Behörden auch genutzt: Im Jahr 2015 forderten sie 185 941 Auskünfte über einzelne Kunden.
Gegen diese Massenüberwachung wehrt sich der Verein Digitale Gesellschaft. Denn die gesammelten Daten sind keineswegs harmlos: Sie erlauben tiefe Einblicke ins Privatleben.
Trotzdem wird die Überwachung der Bürger noch verstärkt. Das Parlament hat im letzten Frühling das Überwachungsgesetz revidiert. Die Neuerungen treten voraussichtlich 2018 in Kraft. Laut dem Zürcher Rechtsanwalt Viktor Györffy, Vorstandsmitglied des Vereins Digitale Gesellschaft, sind die Überwachungsmöglichkeiten «noch gravierender und ausufernder» als heute (siehe Interview unten).
Gemäss dem neuen Gesetz kann der Bundesrat neben den Telekomfirmen weitere Unternehmen zur Vorratsdatenspeicherung verpflichten. Darunter fallen könnte – je nach Ausgestaltung der Verordnung – die beliebte und abhörsichere Kurznachrichten-App Threema mit Sitz in Pfäffikon SZ. Threema-Mitgründer Martin Blatter: «Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung kommt für uns nicht in Frage.» Falls Threema trotzdem dazu gezwungen würde, müsse er sich überlegen, mit dem Unternehmen ins Ausland zu zügeln.
Die EU-Bürger sind besser geschützt
Eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung lehnte das Bundesverwaltungsgericht im November ab. Sie sei zwar ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der Bürger, aber nicht unverhältnismässig. Die Digitale Gesellschaft zog das Urteil ans Bundesgericht weiter. Der Entscheid steht aus.
Die Bürger der EU sind in ihren Grundrechten besser geschützt: Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg erklärte kürzlich die anlasslose und flächendeckende Speicherung der Verbindungs- und Standortdaten für unzulässig. Das Urteil vom 21. Dezember 2016 hält fest, dass die auf Vorrat erhobenen Daten «sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben» zulassen – insbesondere auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, Ortsveränderungen, Tätigkeiten, Beziehungen zu Personen und das gesamte soziale Umfeld. Das könne bei den Bürgern zum Gefühl führen, sie würden ständig überwacht. Laut Gericht ist der Eingriff in die Grundrechte «besonders schwerwiegend». Darin sahen die Richter einen Verstoss gegen die Grundrechtscharta der EU. Eine Vorratsspeicherung ohne jede personelle, zeitliche und räumliche Einschränkung könne «nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt angesehen werden».
EU-Richter fordern Beschränkung
Die EU-Richter schliessen die Speicherung von Verbindungsdaten nicht kategorisch aus. Sie verlangen aber eine Beschränkung «auf das absolut Notwendige». Nur von Leuten, die im Zusammenhang mit einer schweren Straftrat stehen, sollen Kommunikationsdaten gespeichert werden dürfen. Der Entscheid gilt nur für die Mitgliedstaaten der EU. Dennoch hofft Viktor Györffy, dass das Bundesgericht in seinem Sinn entscheidet. Der Entscheid könnte sonst noch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg weitergezogen werden.
«Die Schweiz hat beim Datensammeln eine Spitzenstellung»
saldo: Der Europäische Gerichtshof hat den EU-Staaten die Datenspeicherung auf Vorrat untersagt, sofern kein Verdacht auf eine schwere Straftat vorliegt. Wirkt sich dieser Entscheid auf die Schweiz aus?
Viktor Györffy: Der Gerichtshof hat sich auf die EU-Grundrechtecharta abgestützt. Diese entspricht der Europäischen Menschenrechtskonvention. Folgerichtig müsste auch in der Schweiz die Vorratsdatenspeicherung grundrechtswidrig sein.
Das Bundesverwaltungsgericht sieht das anders. Es hat Ihre Beschwerde abgewiesen.
Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs müsste für das Schweizer Bundesgericht jetzt klarer sein, dass solche Eingriffe in die Grundrechte der Bürger höchst problematisch sind.
Die Speicherung von Daten wird mit der Verbrechensbekämpfung begründet. Was bringen die Daten bei der Aufklärung von Straftaten?
Das weiss niemand. Die Behörden behaupten einfach, Vorratsdaten seien zur Aufklärung von Straftaten sehr wichtig. Das Max-Planck-Institut in Deutschland stellte bei einer grossangelegten Untersuchung keinen klaren Zusammenhang fest. In EU-Ländern, die ohne Vorratsdatenspeicherung auskommen, gibt es keinen Notstand bei der Verbrechensbekämpfung.
Ist die Schweiz das Land, das am meisten Daten seiner Bürger sammelt?
Was die Vorratsdatenspeicherung anbetrifft, nimmt die Schweiz klar eine europäische Spitzenstellung ein.
Zur Person:
Viktor Györffy ist Rechtsanwalt und Präsident des Vereins http://Grundrechte.ch. Dieser Verein setzt sich für den Erhalt und den Ausbau der Grundrechte in der Schweiz ein. Györffy ist zudem Vorstandsmitglied der gemeinnützigen Organisation Digitale Gesellschaft.