Antidepressiva wirken kaum besser als Scheinmedikamente. Das zeigen viele Studien und Untersuchungen («Gesundheitstipp» 9/2014). Doch kürzlich kam eine grossangelegte und vielbeachtete Studie in der britischen Fachzeitschrift «Lancet» zum gegenteiligen Schluss: Die Medikamente sollen doch besser wirken als angenommen. Die Forscher untersuchten, welche Medikamente den besten Nutzen und die wenigsten Nebenwirkungen haben. Dazu analysierten sie 522 Studien mit 21 verschiedenen Wirkstoffen gegen Depressionen. Das Fazit von Studienleiter Andrea Cipriani von der Universität Oxford (GB): «Die gängigsten Antidepressiva wirkten besser als Scheinmedikamente.» Das waren unter anderem Cipralex, Cymbalta und Wellbutrin.
Unabhängige Experten bezweifeln die Aussagekraft der Studie. Der deutsche Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser schreibt in der Zeitschrift «Arznei-Telegramm», die Unterschiede zwischen Antidepressiva und Scheinmedikament seien «äusserst gering». Der Psychologe Michael Hengartner von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften berechnete, dass gemäss Studie bei acht von neun Patienten ein Scheinmedikament gleich gut wirkt wie ein Antidepressivum. Er sagt: «Im Gegensatz zu Placebos verursachen die Medikamente aber Nebenwirkungen.» Dazu gehören sexuelle Störungen, Schlafprobleme und Übelkeit.
Forscher erhielten Geld von Pharmafirmen
Kommt dazu: Die Forscher prüften den Effekt der Medikamente nur über einen Zeitraum von acht Wochen. Eine Therapie mit Antidepressiva dauert aber oft Monate oder Jahre. Für Wolfgang Becker-Brüser ist deshalb klar: «Eine echte Bilanz zum Nutzen und Schaden lässt sich aus dieser Studie nicht ableiten.» Die Forscher finanzierten die Studie zwar mit öffentlichen Geldern. Trotzdem dürfte laut Michael Hengartner der Einfluss der Pharmaindustrie bedeutend gewesen sein: Die Analyse stützt sich auf 522 bereits bestehende Studien. 409 davon waren im Auftrag von Pharmafirmen erstellt.
An der Studie arbeiteten zudem vier Forscher mit, die Gelder von Pharmafirmen bezogen. Professor Stefan Leucht von der Technischen Universität München gab an, Honorare von zwölf Pharmaunternehmen erhalten zu haben. Eines davon ist Lundbeck mit Sitz in Dänemark. Das Unternehmen stellt die Antidepressiva Brintellix und Cipralex her. Ihre Wirkstoffe waren in der Studie unter den besten drei – genau wie das Medikament Valdoxan des französischen Herstellers Servier. Auch von Servier bekam Leucht Honorare für Referate.
Die Forscher liessen zudem Daten einfliessen, die über 30 Jahre alt waren. Sie stammten «zum Teil aus einer Ära vor 1990», wie Leucht einräumt. Bei diesen älteren Studien arbeitete man mit anderen Berechnungsmethoden als heute. Der Effekt des Scheinmedikaments wurde geringer bewertet, darum schnitten die Antidepressiva gegenüber den Placebos entsprechend besser ab.
Für viele Ärzte ist mittlerweile klar: Es gibt bessere Mittel gegen Depressionen als Medikamente. Das gilt vor allem für leichtere und mittelschwere Fälle (siehe Merkblatt unten). Michael Hengartner: «Psychotherapie, Sport und gesunde Ernährung sind viel sinnvoller und haben weniger Nebenwirkungen als Antidepressiva.»
Stefan Leucht schreibt saldo, er fühle sich «in keiner Weise der pharmazeutischen Industrie verpflichtet». Bei seiner Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie gehe es nicht um Antidepressiva. In die statistischen Analysen sei er nicht involviert gewesen, deshalb hätte er keinen Einfluss auf das Abschneiden der Medikamente gehabt.
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