Vor dem Fenster zieht die Landschaft vorbei. Die Erstklasssessel sind breit und bequem. Doch das Zugabteil bewegt sich nicht. Es steht fest verankert im Pflegeheim Bethlehemacker in Bern. Die Landschaft ist nur ein Film, der hinter dem Fenster abläuft. Wenige Meter vom Zugabteil entfernt schwimmen bunte Fische in einem Aquarium. Auch die Fische sind nicht echt: Das Aquarium ist nur ein Bildschirm.
Heimleiter Edgar Studer will mit dem künstlichen Zugabteil einen Ausflug simulieren. Er sagt: «Die Bewohner erkennen die Landschaft und geniessen die sonnige Fahrt.» Eine längere Reise mit einem echten Zug liegt nicht mehr drin, so Studer: «Nach 10 bis 15 Minuten werden Menschen mit Demenz unruhig und wollen etwas anderes machen.» In der simulierten Eisenbahn ist das kein Problem: Die Bewohner können jederzeit aufstehen und den «Zug» verlassen.
Mi technischen Hilfsmitteln Realität vorgaukeln
Laut einer Schätzung der Alzheimervereinigung leiden in der Schweiz 116 000 Menschen an Demenz. Um die Betreuungskosten zu senken, setzen Heime technische Hilfsmittel ein, die den Bewohnern die Realität vorgaukeln.
Das Alterszentrum Bruggwiesen in Effretikon ZH hat kürzlich einen «therapeutischen Roboter» namens Paro angeschafft. Er gleicht einem flauschigen Robbenbaby. Heimleiterin Margrit Lüscher sagt, Paro könne nervöse Bewohner beruhigen und den Kontakt mit dem Personal erleichtern. Gegenüber einer Katze habe der Roboter den Vorteil, dass er nicht davonspringt.
Lüscher schwärmt: «Paro schaut einen mit grossen Augen an und schnurrt. Ich habe ihn bereits ins Herz geschlossen.» Ab Mitte Mai will Lüscher das Roboterbaby in ihrem Heim einsetzen.
Das Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich hat zwei Filme produziert, die Demenzpatienten unterhalten und ihre Pfleger entlasten sollen. In einem dieser Filme tritt der «Kassensturz»-Moderator Ueli Schmezer auf. Am Anfang sagt Schmezer: «I singe schampar gärn. Drum bin i hüt da bi euch zum Singe. Mached er mit?» Schmezer stimmt traditionelle Volkslieder an wie «Es Buurebüebli». Das Zentrum für Gerontologie zeigte den Film im Rahmen einer Studie zwei Dutzend Demenzpatienten. Diese hätten auf Schmezers Auftritt reagiert «wie auf eine echt anwesende Person».
Im Ausland gibt es solche Scheinwelten für Demente schon länger. Das Heim «Landhaus im Laspert» in der deutschen Stadt Remscheid stellte 2006 für die Bewohner eine Bushaltestelle im Garten auf – komplett mit Fahrplan und Bänkli. Ein Bus fährt dort nie vorbei. Heimleiterin Verica Loinjak erklärt: «Wenn sich eine demente Bewohnerin in den Kopf setzt, sie müsse unbedingt ihre Tochter von der Schule abholen, führen wir sie zur Schein-Bushaltestelle. Dort sagen wir ihr, der Bus sei verspätet.» Diese «kleine Lüge» sei besser als Beruhigungsmedikamente.
Pflegeheim will ein ganzes Dorf für Demente aufbauen
Das Dahlia-Pflegeheim in Wiedlisbach BE plant jetzt eine Scheinwelt im grossen Stil: In zwei Jahren soll dort ein sogenanntes Demenzdorf für 100 Bewohnerinnen und Bewohner entstehen – nach dem Vorbild des Pflegeheimes «De Hogeweyk» im niederländischen Weesp. Das «Hogeweyk» ist wie ein Dorf gebaut. Doch die Idylle trügt: Keine Strasse führt in die Aussenwelt. Und im Supermarkt bekommen die Bewohner die gewünschten Waren auch ohne Geld. Therese Boppart, Leiterin des Dahlia-Heims, sieht den Vorteil des Demenzdorfs darin, dass es «alltagsnäher» als andere Heime gestaltet sei.
«Es ist falsch, Scheinwelten aufzubauen»
Unter Heimleitern und Psychiatern sind solche Simulationen umstritten. Die Leiterin der Betreuungsstätte Atrium in Basel, Irene Leu, sagt: «Es ist falsch, Scheinwelten aufzubauen. Denn wir wissen nicht, ob die Bewohner die Illusion durchschauen.» Und: «Um nervöse Demenzpatienten zu beruhigen, braucht man keine künstliche Robbe.» Dazu reiche eine Puppe. Für Michael Schmieder, Leiter des Pflegeheims Sonnweid in Wetzikon ZH, ist klar: «Wir werden sicher kein künstliches Zugabteil einrichten.» Die Beziehung zu den Bewohnern müsse immer auf Wahrheit aufgebaut sein: «Wir haben die Pflicht, unsere Bewohner nicht zu täuschen. Ich will nicht angelogen werden», sagt Schmieder, «auch wenn ich es nicht merke.»
Das Demenzdorf bezeichnet Schmieder als «Katastrophe»: «Solche künstlichen Welten erschaffen wir vor allem für uns Gesunde, um das schlechte Gewissen zu beruhigen.» Entscheidend für das Wohlgefühl der Bewohner sei die Beziehung zu anderen Menschen. Um den Kontakt zwischen dem Personal und den Bewohnern zu intensivieren, platzierte Schmieder die Büros seiner Mitarbeiter bewusst zwischen die Zimmer der Bewohner, damit sich die Angestellten nicht abschotten können.
Edgar Studer vom Pflegeheim Bethlehemacker entgegnet, die Bewohner würden durch ihr Verhalten zeigen, dass ihnen das Zugabteil gefalle. Niemand habe aggressiv reagiert. Sarah Oppikofer vom Zentrum für Gerontologie sagt, der Film mit Ueli Schmezer habe keine Enttäuschung oder Beschämung ausgelöst.
Margrit Lüscher vom Alterszentrum Bruggwiesen in Effretikon ZH sagt zur Kritik am Paro-Roboter: «Auch gesunde Menschen bewegen sich oft in virtuellen Welten.» Das Personal werde den Bewohnern nicht einreden, Paro sei eine richtige Robbe.
Therese Boppart, Leiterin des Dahlia-Heimes in Wiedlisbach, sagt, es sei kein Nachteil, dass das Demenzdorf die Kopie eines realen Dorfes sei. Es werde die Bewohner an ihren früheren Wohnort erinnern.
So finden Sie ein gutes heim
- Suchen Sie frühzeitig ein geeignetes Heim. Denn manche Pflegeheime haben lange Wartelisten.
- Ob ein klassisches Pflegeheim oder eine spezielle Abteilung für Demenzkranke besser geeignet ist, hängt vom Grad der Krankheit ab.
- Informieren Sie sich gründlich über Heime in der Region. Bestellen Sie Informationsmaterial.
- Holen Sie Referenzen ein – bei Bewohnern, Angehörigen oder Bekannten.
- Eine Liste von Heimen, die Mitglied sind beim Verband Curaviva, gibts auf www.heiminfo.ch.
- Ein Merkblatt zum Heimeintritt können Sie herunterladen unter www.alz.ch/index.php/leben-in-einer-institution.html
Folgende Beratungsstellen geben Auskunft:
- Pro Senectute: Beratungsstellen in verschiedenen Kantonen, www.prosenectute.ch
- Schweizerische Alzheimervereinigung: www.alz.ch, Telefon 024 426 06 06
Im Ratgeber «Besser leben im Alter» (1. Auflage, 123 Seiten) finden Sie Anregungen, wie man im Alter gesund und aktiv bleiben kann – ob man zu Hause oder in einem Seniorenheim wohnt.