Vor über dreissig Jahren trat bei Theo Rohr zum ersten Mal das hohe Pfeifen in seinem linken Ohr auf. Es ist nie mehr verstummt. Heute leidet der 72-Jährige aus Eriswil BE vor allem abends: «Das ständige Pfeifen lässt mich manchmal kaum einschlafen.» Rohr vermutet, dass er an Tinnitus leidet, weil er sein Gehör beim Schleifen und Bohren zu Hause zu wenig geschützt hatte.
So wie Rohr geht es vielen. Gemäss Zahlen des Ärztenetzwerks Medix leiden etwa acht von hundert Personen unter einem dauerhaften Ohrgeräusch. Die Ursache ist oft zu viel Lärm. Er schädigt die Sinneszellen im Innenohr.
Das ständige Pfeifen im Ohr belastet die Betroffenen stark. Denn heilbar ist Tinnitus meist nicht.
Die Gesundheitsindustrie verspricht Abhilfe mit Pflanzenmitteln wie Ginkgo oder Cannabis, Hörgeräten oder Klangtherapien. Doch nicht alles nützt tatsächlich. Zu diesem Schluss kamen Fachleute der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde im vergangenen September. Sie überprüften Studien zur Wirksamkeit verschiedener Methoden. Resultat: Erste Massnahme bei Tinnitus sollte eine ausführliche Beratung bei einem Facharzt sein.
Hintergrundgeräusche lenken vom Tinnitus ab
Das klingt banal, hilft jedoch nachweislich. Der Tinnitus-Experte Lukas Anschütz vom Berner Inselspital sagt: «Es ist wichtig, dass Patienten verstehen, was ein Tinnitus ist und wie er entsteht.» Das helfe, mit dem störenden Geräusch langfristig besser leben zu können. Zur Beratung gehören auch Strategien, wie man den Alltag meistert. Zum Beispiel, indem man Musik hört oder einen Zimmerbrunnen plätschern lässt. Denn Hintergrundgeräusche lenken vom Tinnitus ab.
Sinnvoll ist auch eine Verhaltenstherapie. Dabei erlernen Patienten Entspannungstechniken und Übungen, um ihre Wahrnehmung zu steuern. Tobias Kleinjung, leitender Arzt an der Hals-Nasen-Ohren-Klinik des Unispitals Zürich, sagt: «Ziel ist, dass sich Patienten an den Tinnitus gewöhnen.» Das verbessere die Lebensqualität und vermindere Beschwerden wie Schlafprobleme.
Laut Andreas Schapowal, Tinnitusexperte aus Landquart GR, ist eine Verhaltenstherapie «unbestritten wirksam». Das zeige eine Studie aus den Niederlanden mit rund 500 Teilnehmern, die das Fachblatt «The Lancet» 2012 veröffentlichte. Nach der Therapie litten die Betroffenen weniger stark unter dem Tinnitus. Auch andere Formen von Psychotherapie wie Psychoanalyse oder Hypnose können hilfreich sein, sagt Schapowal. Er setzt diese vor allem bei schweren Fällen ein.
Massage und Physiotherapie können helfen
Viele Tinnitus-Patienten sind schwerhörig. Dann lohnt sich ein Hörgerät. «Wenn man besser hört, ist das Gehirn wieder stärker mit Stimmen und Geräuschen aus der Aussenwelt beschäftigt», sagt Anschütz. Das lenke vom Tinnitus ab. Zudem empfehlen Fachleute Massagen und Physiotherapie. Grund: Verspannungen im Bereich von Kopf, Kiefer und Nacken verstärken das Ohrgeräusch. Studien zeigen, dass Massagetechniken und Bewegungsübungen helfen.
Auch Theo Rohr hatte damit Erfolg. Nach einer Kopfmassage bei einem Arzt, der traditionelle chinesische Medizin anwendet, ging es ihm erstmals besser. Heute macht er die Massage selbst: Er streicht mit den Fingern von der Stirn über die Schläfen bis hinter die Ohren und von dort zu den Schultern. Oder er reibt sich rund ums Ohr kräftig mit den Fingern. «Das hilft am besten.»
Nutzen von Medikamenten ist nicht erwiesen
Andere Therapien und Medikamente halfen Rohr nicht. Im Gegenteil: Ein Antidepressivum, das beim Schlafen helfen sollte, verschlimmerte sein Pfeifen im Ohr.
Fachleute raten auch von Schlafmitteln, Kortison oder Psychopillen ab. Es sei nicht bewiesen, dass sie gegen chronischen Tinnitus helfen. Sie verursachen jedoch oft Nebenwirkungen. Bei Pflanzenpräparaten ist der Nutzen ebenfalls umstritten. Es gibt lediglich Hinweise, dass Ginkgo Beschwerden lindert.
Ärzte raten zudem von Geräten ab, die Hirnnerven stimulieren und damit den Tinnitus lindern sollen. Lukas Anschütz: «Die Therapien sind meist sehr teuer, der Nutzen ist nicht bewiesen.» Zudem bergen sie Risiken, warnt Andreas Schapowal. Der Tinnitus könne sich verschlimmern oder die Geräte verursachen Schwindel.
Experten sehen auch gezielte Klang- und Geräuschtherapien kritisch. Zum Beispiel mit Geräten, die ein Rauschen oder andere Töne produzieren – sogenannte Noiser. Sie nützen wenig und können die Beschwerden sogar verstärken («Gesundheitstipp» 5/2019). Laut Schapowal sollte man solche Geräte höchstens kurzfristig im Rahmen einer Verhaltenstherapie einsetzen.