Die Zürcher Gemeinden Dietikon, Dübendorf, Glattbrugg, Kloten und Uster sind keine Mekkas der Reichen. Ebenso wenig die Stadtquartiere Schwamendingen und Oerlikon. An diesen Orten kam es vom 5. bis 11. März zu etlichen Coronainfektionen. Die Zürcher Gesundheitsdirektion verzeichnete in diesen Gemeinden zwischen 25 und 51 neu positiv Getestete. Zum Vergleich: In den zehn privilegierten Goldküstengemeinden am rechten Ufer des Zürichsees bewegte sich diese Zahl im selben Zeitraum zwischen 0 und 18.
Das ist zwar nur eine Momentaufnahme. Doch sie passt zu Befunden aus anderen Regionen im In- und Ausland: Leute mit geringen Einkommen, Jobs im Tieflohnbereich und beengten Wohnverhältnissen haben ein höheres Risiko, sich mit dem Coronavirus anzustecken und zu erkranken, als wohlhabendere Bevölkerungsgruppen.
Das belegt eine Analyse des Medizinsoziologen Nico Dragano. Er wertete die Krankenkassendaten von 1,3 Millionen Versicherten in Deutschland aus. Fazit: Bezüger von Arbeitslosengeld kommen fast doppelt so oft mit Covid-19 ins Spital wie Erwerbstätige. Und in Berlin zeigte eine Studie, dass ein tiefes Haushaltseinkommen und enges Wohnen das Ansteckungsrisiko signifikant steigen lassen.
In die gleiche Richtung weist eine Liste der seit Jahresbeginn positiv Getesteten aus einem grossen Deutschschweizer Kanton, die saldo vorliegt. Sie zeigt, dass sich häufig jeweils mehrere Personen im gleichen Haushalt ansteckten. Der Grossteil der positiv Getesteten war im Erwerbsalter.
Infektionsherde halten sich in ärmeren Quartieren länger
In der Schweiz gibt es bis jetzt zwei Untersuchungen, die Coronarisiken mit sozialen und wirtschaftlichen Lebensumständen verknüpften. Sie erforschten die Situation in Genf und Basel mit Daten aus der ersten Welle vom Frühling 2020. Beide stellten fest, dass Infektionen in dicht besiedelten Quartieren gehäuft auftraten.
Die Wissenschafter um Studienautor David De Ridder von der Uni Genf und der ETH Lausanne registrierten zudem, dass sich Infektionsherde in ärmeren Genfer Quartieren hartnäckiger hielten: 85 Prozent waren dort auch zwei Monate nach ihrer Entdeckung noch aktiv – in den gut situierten Gegenden nur 30 Prozent.
Und die Forscher um den Mikrobiologen Adrian Egli vom Unispital Basel erkannten: Personen mit hoher Mobilität, geringem Verdienst und engem Wohnraum steckten sich nicht nur öfter an als privilegiertere Einwohner. Sie verbreiteten das Virus in Basel auch stärker.
Die Soziologin Sarah Schilliger forscht an den Unis Bern und Basel unter anderem zu prekären Arbeitsverhältnissen und Migration. Sie betont, dass die Menschen dem Coronavirus sehr ungleich ausgesetzt seien. Pflegerinnen, Reinigungskräfte, Bauarbeiter, Supermarktangestellte – sie alle leisteten systemrelevante Arbeit, die aber häufig nur schlecht entlöhnt werde. «Und viele der Leute, die während der Pandemie das System am Laufen halten, können ihre Jobs nicht im Homeoffice ausüben», sagt Schilliger. Sie seien auf ihrem Arbeitsweg und bei der Arbeit einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. «Zudem leben sie aufgrund ihres tiefen Einkommens weitaus öfter in engen Wohnverhältnissen, was die Gefahr einer Ansteckung zusätzlich erhöht.»
Tanja Krones, Medizinethikerin und leitende Ärztin am Unispital Zürich, sieht das gleich. Sie ergänzt, dass sozial Benachteiligte nicht selten ungesünder leben, etwa mehr Fastfood mit hohem Zucker- und Fettgehalt essen, deshalb häufiger übergewichtig sind und früher an Herz- Kreislauf-Erkrankungen leiden. «Dadurch kommt es eher zu schweren Krankheitsverläufen.»
Schilliger und Krones weisen auch darauf hin, dass zur Gruppe der Menschen in prekären Verhältnissen viele Einwanderer gehören. Ein Bericht der OECD zeigte schon im Oktober auf: Das Infektionsrisiko für diese Leute war etwa in Kanada, Dänemark, Norwegen, Portugal und Schweden doppelt so hoch wie für im Inland Geborene. Fazit des Berichts: «Obwohl im Durchschnitt jünger, hatten Einwanderer ein höheres Infektionsrisiko und eine höhere Sterblichkeit.»
Datenlage in der Schweiz ist sehr mangelhaft
In der Schweiz ist laut Schilliger «die Datenlage bezüglich des sozioökonomischen Hintergrunds von Coronainfizierten äusserst mangelhaft». Krones: «Man könnte nicht mehr so leicht über das grössere Risiko der Armen, an Covid-19 zu erkranken oder gar zu sterben, hinwegsehen, wenn solche Daten erhoben würden.»
Doch die Gesundheitsbehörden scheinen nicht interessiert, mehr über die Lebensumstände der Infizierten zu erfahren. saldo fragte bei 15 Kantonen und 10 grossen Spitälern nach: Nirgends werden Angaben über Einkommen, Wohnverhältnisse oder die Situation am Arbeitsplatz erfasst.
Auch der Bund tut das nicht. «Das Ausfüllen eines solchen Formulars wäre für die Ärzte sehr aufwendig», heisst es beim Bundesamt für Gesundheit. Dabei empfahl die Covid-19-Task-Force den Behörden bereits früh, sozioökonomische Daten zu erfassen. Offenbar vergeblich.