Der Journalist Timo Rieg hat mehr als 400 Beispiele mit falschen, unvollständigen oder widersprüchlichen Aussagen gesammelt, die in deutschen Medien während der Coronajahre 2020 und 2021 verbreitet wurden. «Die grossen Medien stellten der Bevölkerung oft wesentliche Informationen nicht zur Verfügung, die zur Beurteilung der Coronapandemie und der sie managenden Politik nötig gewesen wären», fasst er das Resultat seiner Fallsammlung zusammen. «Auf diese Weise war eine verantwortungsvolle Meinungsbildung schlicht nicht möglich.»
Aus dem Zusammenhang gerissen
Ein Beispiel: Die von den Behörden täglich gemeldeten Hospitalisierungs- und Sterbezahlen hätten langfristig tatsächlich eine Entwicklung anzeigen können. Doch für die Einschätzung ihrer Relevanz hätten sie in den entsprechenden Zusammenhang gestellt werden müssen.
So verfasste etwa der «Hellweger Anzeiger» diese Schlagzeile: «Sieben Coronatote im Kreis Unna im Januar: Allein in einer Stadt starben drei Menschen.» Das war aus Sicht von Rieg reine Angstmache. Wichtig wäre die Zusatzinformation gewesen, dass im selben Zeitraum 350 Menschen an anderen Krankheiten oder wegen Unfällen starben.
Den grössten Fehler machten die Medien gemäss Rieg gleich zu Beginn der Pandemie, als sie aus einer Meinung eine Tatsache machten: Das Coronavirus sei nicht mit Grippeviren zu vergleichen. Es sei ein besonders tödliches Virus, das ganz besondere Massnahmen erforderlich mache.
Die wichtigste Aufgabe von Journalisten besteht darin, Fragen zu stellen. Etwa zur Maskenpflicht: Die Behauptung, dass «Masken schützen» wurde von dem Moment an, als die Politik diese Parole ausgegeben hatte, als Faktum übernommen. Die einfache Recherchefrage, ob das wirklich so stimmt, hätte zutage gefördert, dass es sich dabei nur um eine Annahme handelte.
Weitere wichtige Fragen wären gewesen: Was bedeutet es, wenn das öffentliche Leben heruntergefahren wird? Welche Nebenwirkungen hat ein Lockdown?
Viele Journalisten stellten wichtige Fragen nicht
Einzelne Wörter verändern oft ganze Aussagen: Die «Augsburger Allgemeine» schrieb, die Wirtschaft leide unter Corona. Richtig gewesen wäre: Sie litt unter den von den Politikern angeordneten Massnahmen. Oder: Covid-19-Patienten hätten auf den Intensivstationen künstlich beatmet werden «müssen», schrieb der «Kölner Express». Korrekt gewesen wäre: Sie wurden künstlich beatmet.
Die Deutsche Presseagentur schrieb diesen Satz in einer oft kolportierten Meldung: «Trotz steigender Infektionszahlen hatten Tausende Menschen gegen die Massnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie protestiert.» Für Rieg stellt sich die Frage: «Ist dieses ‹trotz› als Meinung erkennbar? Und wenn ja, wer äussert sie?»
Journalisten hätten auch die Frage stellen können, was eine Person zu einem Experten macht. Worin bestand etwa die Expertise von Bill Gates, der längere Interviews in der deutschen ARD oder bei der britischen BBC gab? Und sind Politiker Covidexperten?
Eine Zählung der Corona-Talkshow-Besetzungen vom 26. Februar bis 4. Mai 2020 ergab für Markus Lanz (ZDF), Maybrit Illner (ZDF), Frank Plasberg (ARD), Anne Will (ARD) und Sandra Maischberger (ARD) 97 Auftritte von Politikern: 77 Mal war die Regierungspartei vertreten, nur 20 Mal die Opposition.
Annahmen von Statistikern als Tatsachen verbreitet
Rieg nahm ausschliesslich deutsche Medien unter die Lupe. Doch in der Schweiz machten die Medien die gleichen Fehler. So thematisierten etwa der «Tages-Anzeiger» und das Schweizer Fernsehen SRF regelmässig eine hohe Übersterblichkeit wegen Corona. Diese Zahlen basierten auf Annahmen von Statistikern zur Anzahl der zu erwartenden Toten. Die Statistik der tatsächlich Verstorbenen zeigt aber: Seit dem Jahr 2000 waren die Zahlen mehrmals ähnlich wie während der drei Coronajahre.
Das Bundesamt für Gesundheit publizierte täglich Zahlen zur Coronapandemie – auch zu den Spitaleintritten im Zusammenhang mit Corona. Diese wurden von den meisten Medien wiedergegeben – ohne sie zu überprüfen.
Doch in diesen Zahlen waren nicht nur Patienten enthalten, die wegen einer Covid-19-Erkrankung ins Spital eingeliefert wurden, wie saldo als erstes Medium aufdeckte. In den Zahlen der Behörden waren auch Spitaleintritte einberechnet, die auf eine andere Erkrankung oder einen Unfall zurückgingen (saldo 12/2021).