Der 63-jährige Max F. aus Luzern nimmt seit über 20 Jahren jeden Tag eine Kapsel Atorvastatin. Das Medikament aus der Gruppe der Statine soll das Risiko für einen Herzinfarkt, Hirnschlag oder Schlaganfall senken. Der Arzt rät ihm, den Cholesterinsenker einzunehmen, denn sein Blutdruck sei hoch. Und sein Vater starb an Hirnschlag.
Ob dem 63-Jährigen das Statin etwas nützt, ist unklar. Max F. hat keine Herzkrankheit. Er schluckt das Medikament vorbeugend. Bisher bemerkt er keine Nebenwirkungen. Unbestritten ist unter Forschern nur: Statine senken bei Patienten nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall das Risiko eines weiteren Vorfalls deutlich. Ob sie gesunde Patienten schützen, ist offen.
Zürcher Forscher: Nutzen bisher stark überschätzt
Forscher der Universität Zürich untersuchten vor kurzem, ob Statine einen vorbeugenden Effekt haben. Sie werteten alle Daten aus der Fachliteratur zu Nutzen und Nebenwirkungen der vorbeugenden Statin-Einnahme aus und befragten gesunde Leute.
Das Ergebnis: Laut Studienautor Milo Puhan sei vor allem der Nutzen von Statinen für Senioren bisher stark überschätzt worden. Statine verhindern bei ihnen «nur vergleichsweise wenige Infarkte». Und im Alter treten häufiger Nebenwirkungen auf. Laut Milo Puhan werden Statine heute zu häufig empfohlen.
Der europäische Kardiologenverband und die schweizerische Gesellschaft für Kardiologie empfehlen die Einnahme von Statinen bei gesunden Patienten mit einem Risiko von 7,5 bis 10 Prozent, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erleiden. Das Risiko berechnen Ärzte anhand der Risikofaktoren des Patienten. Zu diesen gehören etwa Diabetes, Übergewicht oder familiäre Veranlagung.
Muskelschmerzen, Leberschäden oder Diabetes als Nebenwirkung
Forscher Puhan kritisiert die Risikowerte als «zu tief». Die Empfehlungen berücksichtigten den Schaden zu wenig, den Statine durch potenzielle Nebenwirkungen anrichten können. Dazu gehören Muskelschmerzen, Leberschäden oder Diabetes.
Für die Altersgruppe der 70- bis 75-Jährigen errechneten die Zürcher Forscher den neuen Schwellenwert von 21 Prozent. Das heisst: Erst ab einem Risiko von 21 Prozent, in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erleiden, nützen Statine mehr, als sie schaden. Für die 40- bis 45-jährigen Männer und Frauen liegt der Wert bei 14 und 17 Prozent. Puhan schätzt, dass die neuen Risikowerte die Zahl der Leute halbieren könnten, die eine Empfehlung zur vorbeugenden Einnahme von Statinen erhielten. Die Wissenschafter verglichen zudem die Wirkung von vier Statin-Präparaten miteinander: Atorvastatin und Rosuvastatin nützen Patienten tendenziell mehr und haben weniger Nebenwirkungen als Simvastatin und Pravastatin.
Thomas Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich, sagt: «Vor allem ältere Patienten sollten die Statin-Einnahme überprüfen.» Laut einer neuen Überblicksstudie, die total 28 Studien mit 187 000 Teilnehmern auswertete, profitieren über 75-Jährige ohne Herzkrankheiten wenig von Statinen.
Auch Etzel Gysling, Herausgeber des Fachblatts «Pharma-Kritik» und Hausarzt in Wil, geht davon aus, dass die ärztlichen Richtlinien «dazu verführen, zu viele Statine zu geben». Er habe den Eindruck, dass Spitalärzte und Spezialisten sie «eher zu oft» verschrieben. Aus seiner Praxiserfahrung wisse er, dass Statine bei vielen, vor allem körperlich aktiven Patienten störende «muskuläre Symptome» hervorriefen. Andere Risiken beträfen eher wenige Patienten.
Als Hausarzt bespreche er mit den «Patienten ihr allfälliges Herzinfarktrisiko und die Option, Statine vorbeugend einzunehmen». Wichtiger sei ihm aber, Patienten dazu zu bewegen, ihr Risiko durch Verhaltensänderungen zu senken. Zum Beispiel indem sie das Rauchen aufgeben, abnehmen oder mehr Sport treiben, um den Blutdruck zu senken.
So ermitteln Sie das Risiko eines Infarktes
Das individuelle Risiko für einen Herzinfarkt, Hirnschlag oder Schlaganfall kann man mit dem Risikorechner der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (Agla) der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie berechnen. Dazu muss man seine Blutfettwerte kennen. Der Arzt kann diese per Test herausfinden.
Agla.ch/risikorechner