Mitte März dieses Jahres erklärte der Bundesrat den Ausnahmezustand. Das bedeutet: Er kann Verordnungen erlassen, die dem geltenden Recht, der Gewaltenteilung und der schweizerischen Demokratie widersprechen. Die Bundesverfassung gibt ihm diese Kompetenz, «wenn die innere oder äussere Sicherheit» unmittelbar schwer gefährdet ist. Ob das im März tatsächlich der Fall war, ist unter Juristen umstritten.
Mitte Juni hob die Regierung die «ausserordentliche Lage» auf, das Parlament tagte wieder. Die Notverordnungen galten weiter. Gemäss Verfassung sind sie aber zu befristen. Deshalb schickte der Bundesrat Mitte August den Entwurf für ein Covid-19- Gesetz ans Parlament. Damit will er eine rechtliche Grundlage schaffen, um seine bereits getroffenen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus fortführen zu können. National- und Ständerat sollen das Gesetz in der Septembersession durchwinken. Das Bundesgesetz soll als dringlich erklärt werden, anschliessend sofort in Kraft treten und bis Ende 2021 gelten. Die Bevölkerung hätte dazu nichts zu sagen.
Mit dem neuen Gesetz will der Bundesrat die Kompetenz für weitreichende Massnahmen. Es gäbe ihm die Möglichkeit, mit Hinweis auf die Coronapandemie eine Vielzahl von Bundesgesetzen zu ändern. Die tiefgreifende Änderung würde also nicht nur die Gesundheitsversorgung oder die Sozialversicherungen betreffen, sondern beispielsweise auch das Arbeitsrecht, den Ausländer- und Asylbereich, das Wirtschaftsrecht, Konkursverfahren und Gerichtsprozesse.
Massive Verletzung der Gewaltenteilung
Der Gesetzesentwurf verletzt die Gewaltenteilung, die seit 1848 in der Schweiz gilt. Sie besagt: Das Parlament erlässt Gesetze, die Regierung setzt diese um und die Gerichte setzen sie durch. Diese Gewaltenteilung verhindert die Konzentration der Macht bei einzelnen Personen oder Institutionen und schiebt dem Machtmissbrauch einen Riegel vor.
Mit dem «Covid-19-Gesetz» hingegen würde die Regierung eine enorme Machtkonzentration erhalten. In der kurzen Vernehmlassung während des Sommers äusserten Kantone, Parteien und Verbände heftige Kritik am Gesetzesentwurf. Hauptvorwurf: Der Bundesrat beanspruche zu viel Macht.
Auch Staatsrechtler kritisieren die Vorlage. Der Zürcher Professor Felix Uhlmann nennt sie ein «Ermächtigungsgesetz, das nicht den Grundannahmen der Verfassung entspricht». Es sei zwar notwendig, gewisse Aufgaben im Zusammenhang mit der Pandemie an den Bundesrat zu de-
legieren, doch enthalte die Vorlage «eigentlich fast nur Delegationen».
Der Berner Staatsrechtsprofessor Pierre Tschannen schreibt über solche Kompetenzverschiebungen vom Parlament an die Regierung: «Krasser als durch Blankodelegationen kann man aber den Grundsatz der Gewaltenteilung und das Stimmrecht der Bürger kaum missachten. Delegationen müssen auch im Bund sachlich beschränkt bleiben.»
Sein Kollege Andreas Kley von der Uni Zürich warnt: «Das Covid-19-Bundesgesetz ist verfassungswidrig.» Laut dem Professor ändere es die Zuständigkeit im Bereich der Rechtsetzung, «indem ein blosses Bundesgesetz den Bundesrat ermächtigt, andere Bundesgesetze abzuändern». Mit anderen Worten: Der Bundesrat will selbst Gesetzgeber spielen. Die Macht, Gesetze zu erlassen, steht aber einzig dem Parlament zu.
Das Bundesgericht war stets gegen eine derart grosse Übertragung von Kompetenzen des Parlaments an die Regierung. Es nennt sie «eine Blankodelegation von Rechtsetzungsbefugnissen». Es bekräftigt in einem Urteil, in dem es um ähnliche Kompetenzverschiebungen ging, dass ein solches Vorgehen unzulässig ist. Sinn dieser Schranke ist, eine weitgehende Übertragung von parlamentarischer Macht an die Regierung zu unterbinden.
Volk musste sich die direkte Demokratie zurückerobern
Ab dem 30. August 1939, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, regierte der Bundesrat letztmals mit weitgehenden Sondervollmachten. Das Parlament war damit faktisch entmachtet. Andreas Kley spricht von «sieben Diktatoren, die kollegial regierten». Dieser Zustand wurde bei Beendigung des Krieges nicht aufgehoben. Das war erst vier Jahre später der Fall – durch die knappe Annahme der Volksinitiative «Für die Rückkehr zur direkten Demokratie». Alle grossen Bundesratsparteien bekämpften das Volksbegehren.