Ob Penicillin, Teflon oder LSD – bei einigen Entdeckungen stand der Zufall Pate. So auch bei den Forschungen des österreichisch-kanadischen Mediziners Hans Hugo Seyles (1907–1982). Auf der Suche nach neuen Hormonen stiess er auf Erstaunliches. Nach der Gabe einer Hormonlösung vergrösserten sich die Nebennierenrinden der Laborratten und es entwickelten sich Magengeschwüre.
Die gleiche Wirkung zeigte sich allerdings auch, wenn die Tiere mit Hitze oder Kälte in Kontakt kamen. Seyles hatte kein neues Hormon entdeckt – sondern ein biologisches Phänomen, das ihn ein Leben lang beschäftigen sollte und dem er auch den Namen gab: Stress.
Diese und weitere Anekdoten machen Madlen Zieges neues Buch zum Leseerlebnis. Detailreich fasst die deutsche Biologin den Stand der Forschung zum Thema Stress zusammen. Um den grossen «Sündenbock unserer Zeit» würden sich einige Mythen ranken, die wissenschaftlich nicht belegt seien, schreibt Ziege. Etwa die Behauptung, Stress sei ein zivilisatorisches Übel, das «gemanagt» oder gar besiegt werden könne. Stress sei nicht schädlich, hält die Autorin dagegen, sondern ein «wichtiger Motor der Evolution»: Er helfe Lebewesen, «zerstörerischen Kräften von aussen» entgegenzutreten und das «Gleichgewicht wiederherzustellen» – durch Anpassung oder Flucht.
Dafür gibt es viele Beispiele in der Natur. Meeresschnecken etwa trennen ihren Kopf ab, wenn der Körper von Parasiten befallen wird. Danach wächst ein neuer Rumpf aus dem Haupt. Stress nützt auch der Erdbeerpflanze. Bei Trockenheit produzieren die Wurzeln einen Botenstoff, der den Blättern das Signal zum Zusammenziehen gibt – so verdurstet die Pflanze nicht. Und wilde Kaninchen fliehen in Städte. Dort gibts mehr Nahrung als in übernutzten Agrarwüsten. Für die Autorin «ein guter Grund, zum Stadtbewohner zu werden».
Madlen Ziege, «Die unglaubliche Kraft der Natur. Wie Stress Tieren und Pflanzen den Weg weist», Piper, München 2023, 240 S., ca. 30 Franken
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