Verhalten sich Politiker arrogant und realitätsfern, fällt rasch der Vergleich mit Marie-Antoinette von Österreich-Lothringen. Als die Bauern im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts zu wenig Geld hatten, um Brot zu kaufen, soll die französische Königin ausgerufen haben: «Dann sollen sie doch Kuchen essen!»
Eine Anekdote mit Empörungspotenzial. Doch die holländische Historikerin Jo Hedwig Teeuwisse schreibt: «Es gibt keinerlei Belege dafür, dass Marie-Antoinette dies wirklich gesagt hat.» Die Legende einer «grossen Prinzessin», von der die Aussage stammen soll, wurde 1766 vom Philosophen Jean-Jacques Rousseau in die Welt gesetzt. Damals war Marie-Antoinette 11 Jahre alt und lebte noch in Österreich. Der Spruch wurde ihr erst viel später untergeschoben.
Diese Geschichte ist eine von 101 historischen Unwahrheiten, die Teeuwisse aufdeckt. Viele sind harmlos und amüsant. Etwa, dass Wikingerhelme mit Hörnern versehen waren oder der Komponist Ludwig van Beethoven maurische Wurzeln hatte. Andere zeigen auf, wie Geschichte missbraucht wird, um Gesellschaften als überlegen und andere als minderwertig darzustellen. So halte sich etwa das Vorurteil, «dass die Afrikaner nicht wussten, was ein Rad war, bis die europäischen Kolonisatoren eintrafen», schreibt Teeuwisse. Oder dass Adolf Hitler die Autobahn erfunden habe.
Viele Falschnachrichten drehen sich um das «finstere Mittelalter». Etwa um Folterinstrumente wie die eiserne Jungfrau: eine Art Sarg, der im Inneren mit Stacheln versehen war. Noch heute sieht man solche Objekte in Museen. Materialanalysen zeigen, dass die meisten dieser angeblich mittelalterlichen Apparate aus dem 19. Jahrhundert stammen. Damals ergötzte man sich an morbiden Geschichten aller Art: Die Foltergeräte sagen also mehr über die Obsessionen der Gesellschaft im 19. Jahrhundert aus als über die Menschen, die zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert lebten.
Jo Hedwig Teeuwisse, «Fake History», Heyne, München 2023, 432 Seiten, ca. Fr. 28.–
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