St. Gallen Bruggen, 8.30 Uhr: Bäuerin Karin Eicher fährt ihren Kombi vor die Migros-Filiale. Wie jede Woche besucht sie den Laden, um das übriggebliebene Brot abzuholen. Heute ist es eine ganze Palette voll. Darin sind Brote, Brezeln, Semmeln und andere Backwaren. Eicher bezahlt dafür 10 Franken – ein Bruchteil des ursprünglichen Verkaufswertes. «Das Brot ist für meine 19 Kühe bestimmt», erzählt sie, «die freuen sich riesig.»
2,3 Prozent aller Lebensmittel werden laut Migros verbilligt abgegeben. Sei es, weil das Verkaufsdatum abgelaufen, die Ware oder Packung beschädigt oder etwas falsch deklariert ist. In der Quartierfiliale Bruggen überprüfen die Mitarbeiter Fleisch, Gemüse, Früchte, Milchprodukte, Brot und Eier laut Filialleiter Gregor Scheiwiller mindestens einmal täglich auf Haltbarkeit, Aussehen und Beschädigungen. Nähert sich ein Produkt dem Ende der Verkaufsfrist, wird es um 33 oder 50 Prozent verbilligt. Geht es dann immer noch nicht weg, haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, die Ware mit 75 Prozent Rabatt zu kaufen. Was übrig bleibt, wird nicht unbedingt weggeworfen.
Pro Tag kommt bis zu einer halben Palettenbox Ware zusammen
In einem Vorraum des Ladens stehen Rollwagen mit Salaten, Gemüse und Früchten. Die Angestellte Alfrida Qufaj bucht diese Lebensmittel aus dem EDV-System und sortiert sie. Offenware, die noch ansehnlich ist, sowie Verpacktes innerhalb der Haltbarkeitsfrist legt sie in die Box für die gemeinnützige Organisation Schweizer Tafel.
Alles andere wandert in die Abfallbox. Darin befinden sich etwa eine Frischeierpackung mit einem zerbrochenen Ei, vier Joghurts mit Beschädigungen, abgelaufene Brätkügeli sowie Produkte, bei denen das Verbrauchsdatum fehlt. In dieser Filiale wird pro Tag ein Viertel bis eine Hälfte einer Palettenbox mit Abfall gefüllt.
Was nicht mehr essbar ist, wird verbrannt oder zu Tierfutter verarbeitet
Um 9.05 Uhr klingelt es. Ein Zweierteam der Organisation Schweizer Tafel steht am Lieferanteneingang. Es holt aus dem Kühlraum zwei Kisten mit Lebensmitteln, darunter Fertigpizzas, Patisserie, Blattsalate und Kartoffeln. Laut dem ehrenamtlichen Mitarbeiter Ruedi Preisig sammelt die Schweizer Tafel die Lebensmittel in St. Gallen und Umgebung täglich auf drei Touren bei Migros, Coop, Lidl oder Manor ein. Die Ware geht gleichentags an die Gassenküche St. Gallen sowie an Heime und soziale Institutionen der Region. In einigen Gemeinden geben soziale Organisationen die Waren für einen symbolischen Betrag an Sozialhilfebezüger ab.
Nicht überall sind die Abläufe gleich wie im Laden in Bruggen. In Migros-Filialen mit Restaurant wird Frischware zum Teil noch in der Küche verwendet, so Sandro Feltscher, Verkaufsgruppenleiter Migros Ostschweiz. Zudem ist die Schweizer Tafel nicht überall so präsent wie im Raum St.Gallen. Im Kanton Zürich fährt sie mit ihren Kühlwagen bloss drei Migros-Filialen an. Zum Teil übernehmen andere wie Tischlein deck dich oder Caritas nicht mehr verkäufliche Lebensmittel.
Nicht alles ist aber noch geniessbar: Laut Sprecher Andreas Bühler können bei der Migros 1,4 Prozent der Lebensmittel weder vergünstigt verkauft noch an wohltätige Organisationen abgegeben werden. Altbrot etwa gelangt zu einem Verarbeiter für Tierfutter. Nicht mehr geniessbare Früchte, Fleisch oder Gemüse landen in Biogas- oder Kompostieranlagen. 0,2 Prozent der Lebensmittel verbrennt die Migros in Kehrichtverbrennungsanlagen – vor allem Fleisch und Fisch. Vor einigen Jahren sei der Anteil, der vernichtet wurde, einiges höher gewesen, sagt Verkaufsgruppenleiter Feltscher. Durch bessere Logistik und Computersysteme habe die Migros diese Menge deutlich senken können.
Auch andere Grossverteiler berücksichtigen karitative Organisationen
Bei Coop und Aldi Suisse läuft die Verwertung von Lebensmitteln ähnlich ab. Zuerst werden die Preise reduziert. Was keine Abnehmer findet, spenden auch Coop und Aldi karitativen Organisationen. Ein Teil der Ware landet als Tierfutter bei landwirtschaftlichen Betrieben oder Zoos. Die restlichen Abfälle werden vergärt oder in der Kehrichtverbrennungsanlage entsorgt.
Laut Coop enden nur 0,9 Prozent der Nahrungsmittel in Vergärungsanlagen, rund 0,2 Prozent in der Kehrichtverbrennungsanlage.
Nahrungsmittelspenden: Diese Organisationen sammeln Lebensmittel
Laut dem Schweizer Portal Foodwaste fallen 5 Prozent aller Lebensmittelabfälle im Detailhandel an – 130 000 Tonnen jährlich. Drei Organisationen engagieren sich gegen die Verschwendung:
- Die Schweizer Tafel sammelt in elf Regionen Nahrungsmittel – letztes Jahr fast 4000 Tonnen. 46 Prozent davon stammten von Coop, 23 Prozent von der Migros. Die restlichen 31 Prozent entfallen unter anderem auf Aldi, Lidl, Manor. Freiwillige und Arbeitslose verteilen die Waren gratis an rund 500 Institutionen.
- Der Verein Tischlein deck dich erhielt letztes Jahr 2650 Tonnen Lebensmittel, gespendet von Nahrungsmittelindustrie, Landwirtschaft und Detailhändlern. Versorgt werden bedürftige Einzelpersonen und Familien. Die Nahrungsmittel werden vorab in Verteilzentren gelagert und müssen deshalb mehrere Tage haltbar sein.
- Die Caritas hat 23 Läden, in denen Leute mit knappen Finanzen Lebensmittel billig einkaufen können. Ein Teil des Sortiments besteht aus Waren, die Hersteller oder Detailhändler der Caritas gratis zur Verfügung stellen.
Porträt: Meret Schneider - Mehrgangmenü aus dem Abfall
Die 20-jährige Meret Schneider aus Uster ZH durchsucht mindestens zwei Mal pro Woche die Abfallcontainer von Detailhändler wie Coop, Migros, Aldi und Denner nach weggeworfenen Esswaren. Sie findet Gemüse, Früchte und Brot, aber auch Milchprodukte, Patisserie und ein wenig Fleisch. Je nach Saison stösst sie auf Weihnachtsguetsli, Schoggihasen oder Mövenpick-Glace. Besonders ergiebig sind die Container laut Schneider an Wochenenden.
«Über die Hälfte der weggeworfenen Waren kann man noch bedenkenlos essen», sagt die Präsidentin der Jungen Grünen des Kantons Zürich. Sie fördert vorwiegend abgelaufene Waren aus den Containern. Bisweilen findet sie aber auch Nahrungsmittel, bei denen Verpackung, Aussehen und Haltbarkeitsdatum in Ordnung sind.
Meist ist Meret Schneider bei ihren Wühltouren allein unterwegs. Gelegentlich kommen auch Freunde mit. Einmal im Monat trifft man sich zu einem Containerstammtisch. «Bisher reichten die Lebensmittel immer für einen Mehrgänger», erzählt die Jungpolitikerin. Gesammelt wird hauptsächlich in der Stadt Zürich, manchmal auch im restlichen Kanton. Welche Läden sie besucht, will Schneider nicht verraten.
Die Abfallcontainer der Läden sind teils frei zugänglich, teils hinter Gittern platziert. Einige Male ist Schneider vom Ladenpersonal vertrieben worden. Nicht dass sich die junge Frau die Lebensmittel nicht leisten könnte. Mit ihrem Verhalten übt sie Kritik an der Wegwerfgesellschaft und will die Grossverteiler dazu bringen, mit Nahrungsmitteln sorgsamer umzugehen.