Am 29. Oktober 2018 stürzte ein Flugzeug der Lion Air vor Indonesien ins Meer. Es war eine nur wenige Monate alte Maschine des Typs Boeing 737 Max. Alle 189 Menschen an Bord starben.
Aus diesem Anlass befasste sich die US-Flugaufsichtsbehörde FAA wenige Tage später erstmals detailliert mit der Software MCAS des von ihr neu zugelassenen Flugzeugs.
Sie führte Risikoanalysen durch, die zu einem schockierenden Befund kamen: Falls diese Software nicht fundamental korrigiert werde, sei über die Lebensdauer der gesamten 737- Max-Flotte mit 15 weiteren Abstürzen zu rechnen. Es werde zu 2,7 Todesfällen pro Million Flugstunden kommen. Das ist fast das 27-Fache des Richtwerts der US-Aufsichtsbehörde. Das geht aus einem ausserhalb der USA noch kaum beachteten Bericht des amerikanischen Verkehrsministeriums von Ende Juni hervor.
Amt winkte Boeings fehlerhafte Software durch
Trotz dieser verheerenden Prognose handelte die FAA nicht. Die Folge ist bekannt: Wenige Monate später, am 10. März 2019, stürzte eine Boeing 737 Max der Ethiopian Airlines in der Nähe von Addis Abeba ab. Alle 157 Insassen kamen ums Leben. In beiden Fällen kämpften die Piloten im Steigflug nach dem Start gegen den Computer der Maschine. Das automatische Steuerungssystem MCAS drückte die Nase des Flugzeugs wiederholt nach unten. Die Maschinen gerieten dadurch ausser Kontrolle und rasten beim Absturz mit hohem Tempo ins Meer (Indonesien) und in den Boden (Äthiopien).
Nach dem zweiten Absturz handelte die US-Aufsichtsbehörde. Seither gilt für die 737 Max faktisch ein weltweites Flugverbot. Boeing hatte bis dahin 387 Flugzeuge dieses Typs ausgeliefert. Für 4172 weitere Maschinen liegen Bestellungen vor – auch von Airlines, welche die Schweiz anfliegen (siehe Kasten).
Wann der Flieger wieder mit Passagieren abheben darf, ist offen. Anfang August legte die US-Flugaufsichtsbehörde einen Entwurf ihrer Bedingungen vor, unter denen sie der 737 Max die Wiederzulassung erteilen will. In der Hauptsache verlangt sie grundlegende Änderungen am Steuerungssystem und dessen Software. Auch sollen neue Anzeigen im Cockpit sicherstellen, dass die Piloten Auffälligkeiten des Systems sofort erkennen. Ferner fordert die FAA Verbesserungen bei Pilotenhandbüchern und Trainingsprogrammen, eine neue Führung bestimmter Kabelstränge und anderes mehr.
Trotz dieser Bedingungen ist unklar, wie vertrauenswürdig die FAA ist – und wie unabhängig vom Konzern Boeing. Der Bericht des US-Verkehrsministeriums zeigt klar: Bei der ersten Zulassung des Unglücksfliegers hat neben Hersteller Boeing auch die US-Flugaufsicht geschlampt.
Demnach stellte Boeing im ersten Antrag zur Zulassung der 737 Max die Software MCAS nicht als neues, sondern nur als Anpassung des bestehenden Steuerungssystems dar. MCAS gehörte darum nicht zu den Schwerpunkten des Prüfprogramms der FAA. Dazu kommt: Boeing nahm nach Testflügen gewichtige Änderungen an der MCAS-Software vor. Der Flugzeugbauer versäumte es, der FAA Papiere dazu vorzulegen. «Wichtige Zertifizierungsingenieure sagten, dass sie von der Überarbeitung von MCAS nichts wussten», heisst es im Bericht.
Ohne fundierte Prüfung genehmigte die FAA auch Boeings Trainingsplan für 737-Max-Piloten. Er ermöglichte es Piloten, die bereits für das Vorgängermodell der 737 Max qualifiziert waren, sich ohne Umschulung hinter den Steuerknüppel des neuen Flugzeugs zu setzen. Das machte die 737 Max für viele Airlines attraktiv. Bloss: Die Piloten lernten so nicht, wie sie auf eine plötzliche Aktivierung von MCAS reagieren sollen, heisst es im Bericht des Verkehrsministeriums.
Verheerende Branchennähe der Aufsichtsbehörden
Ebenfalls erschreckend: der Mangel an kritischer Distanz zwischen der Aufsichtsbehörde und der Luftfahrtbranche. Dieses Problem kennt auch die Schweiz. In den USA hat es eine lange Tradition: Dort delegiert die FAA bei der Flugzeugzulassung seit Jahrzehnten Aufgaben an die Hersteller. Der Bericht des US-Verkehrsministeriums deckt jetzt auf: Ende 2016 lagen 87 Prozent der Sicherheitsbewertungen für die 737 Max in den Händen von Boeing-Leuten. Auch die Sicherheit jener Flugsoftware, die zu den zwei Abstürzen führte, beurteilte Boeing selbst.
Fragwürdige Verfahren bei der Zulassung können gravierende Folgen haben: Ist eine Maschine zertifiziert, wird sie in der Regel nirgendwo auf der Welt mehr geprüft. Die europäische Flugsicherheitsbehörde Easa, der auch die Schweiz angehört, führt bei einem Flugzeug mit FAA-Zulassung kein eigenes Zertifizierungsverfahren mehr durch, bevor es in Europa fliegen darf. Sie beschränkt sich darauf, die amerikanische Zulassung zu überprüfen.
17 Airlines mit Schweiz-Verbindungen
Weltweit führen aktuell 57 Fluggesellschaften die Boeing 737 Max in ihrer Flotte oder haben Maschinen dieses Typs zumindest bestellt. Darunter sind 17 Fluggesellschaften, die auch Schweizer Flughäfen anfliegen: Air Canada, Air China, Air Europa, American Airlines, Ethiopian Airlines, Hainan Airlines, Icelandair, Korean Air, Norwegian Air Shuttle, Oman Air, Qatar Airways, Royal Air Maroc, Ryan-air, Sun Express, Tuifly, Turkish Airlines und United Airlines.
Diese 17 Airlines erhielten bis jetzt 145 Stück der 737 Max ausgeliefert. Bestellt haben sie insgesamt 894 Stück. Ob sie die Maschine nach der Wiederzulassung auch auf ihren Verbindungen in die Schweiz einsetzen werden, ist noch offen.
Auch in der Schweiz fehlt es der Behörde an Distanz
Flugsicherheit erträgt keine Kompromisse. Umso wichtiger sind eiserne Aufsichtsbehörden. Nicht nur in den USA, auch in der Schweiz bestehen Zweifel an deren Unabhängigkeit: Das Eidgenössische Verkehrsdepartement leitete kürzlich eine Untersuchung gegen das Bundesamt für Zivilluftfahrt ein. Grund ist laut Medienberichten ein unveröffentlichter Entwurf zum Schlussbericht der Sicherheitsuntersuchungsstelle Sust über den Absturz einer Ju-52 vor zwei Jahren. Er enthält offenbar harsche Kritik am Luftfahrtsamt. Beim Unglück am Piz Segnas oberhalb von Flims GR starben 20 Menschen.
Der «K-Tipp» dokumentierte Anfang 2019, dass die Aufsichtsbehörde eine problematische Nähe zur Luftfahrtbranche aufweist (2/2019). Und er kritisierte, dass einige Amtsinspektoren auch als Piloten für private Flugunternehmen aktiv seien. Der Sprecher des Amts entgegnete: «Wir brauchen keine Theoretiker als Inspektoren, sondern Profis, die mit dem Fliegen vertraut sind.»