Unter Ärzten gab es in den vergangenen Jahren kontroverse Diskussionen zur Frage, wann Patienten ihre Blutdruckmittel einnehmen sollen. Viele Ärzte empfahlen ihren Patienten, die Medikamente am Abend zu schlucken. Sie stützten sich auf eine Studie mit rund 19'000 spanischen Patienten, die vor drei Jahren im Fachblatt «European Heart Journal» veröffentlicht wurde («Gesundheitstipp» 3/2020).
Die Forscher kamen zum Schluss, Patienten würden länger leben, wenn sie ihre Medikamente vor dem Schlafengehen einnehmen. Diese Studie war allerdings umstritten. Die deutsche Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» schrieb damals, sie weise schwere Mängel auf und hätte gar nicht veröffentlicht werden dürfen.
Am Morgen fällt die regelmässige Einnahme leichter
Jetzt zeigt eine neue grosse Studie: Die Einnahme am Abend bringt keine Vorteile. Die Forscher untersuchten mehr als 21'000 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 65 Jahren. Dabei fanden sie heraus: Die Teilnehmer, welche die Tabletten abends schluckten, hatten gleich viele Herzinfarkte und Schlaganfälle wie diejenigen, welche die Mittel morgens einnahmen. Und sie lebten auch nicht länger. Das schreiben die Forscher in der englischen Fachzeitschrift «The Lancet».
Internationale Ärztegesellschaften empfehlen in einer neuen Leitlinie deshalb die Einnahme am Morgen. Auch die deutsche Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» schreibt in der aktuellen Ausgabe, Ärzte sollten die Mittel nicht für den Abend verschreiben.
Der Berner Herzspezialist Franz H. Messerli bestätigt: «Heute wirken praktisch alle guten Blutdruckmedikamente 24 Stunden lang. Deshalb spielt es im Prinzip keine Rolle, zu welchem Zeitpunkt man sie einnimmt.» Wichtig sei aber, dass Patienten ihr Medikament regelmässig einnehmen. Das falle vielen Leuten am Morgen leichter: «Am Morgen hat man immer denselben Ablauf – man steht auf, putzt die Zähne, steht unter die Dusche. Deshalb ist das Risiko gering, dass man den Blutdrucksenker vergisst.» Am Abend sei die Disziplin vieler Patienten deutlich schlechter. Auch Manuel Blum, Blutdruckspezialist am Berner Inselspital, sagt: «Die regelmässige Einnahme ist bei Blutdruckmitteln möglicherweise viel wichtiger als der genaue Zeitpunkt.»
Ausnahmen: Leute mit hohem Blutdruck, die gleichzeitig ein Statin gegen hohes Cholesterin benötigen, können laut Messerli beide Mittel am Abend nehmen – «wenn sie die nötige Disziplin aufbringen». Und Patienten, bei denen es besonders wichtig ist, dass sie während der Nacht einen tiefen Blutdruck haben, profitieren von der abendlichen Einnahme. Herzarzt Franz H. Messerli erklärt: «Dazu gehören zum Beispiel Leute mit Schlafapnoe oder Diabetes, bei denen der Blutdruck oft während der Nacht am höchsten ist.»