Mitte August auf einer Busfahrt bei Davos im Kanton Graubünden: Ein Tourist aus den Niederlanden will im Fahrzeug ein Billett lösen. Beim Chauffeur ist das nicht mehr möglich, deshalb tippt der Passagier im Bus fast eine Minute lang auf dem Touchscreen eines winzigen Automaten herum. Endlich hat der Niederländer den Ticketkauf geschafft. Einen Beleg auf Papier gibt es nicht. Der Mann fotografiert daher mit seinem Handy sicherheitshalber den Bildschirm ab, um bei einer allfälligen Kontrolle etwas in der Hand zu haben.
Die Szene zeigt: Das im Kanton Graubünden seit Dezember 2022 schrittweise eingeführte bargeldlose Ticketsystem Venda hat seine Tücken. Gegenwärtig ist es in Bussen und Postautos in den Regionen Davos und Chur im Einsatz, seit kurzem auch im Oberengadin. Bis Ende 2024 soll es überall im Kanton Graubünden gelten. Dabei wird das Billett auf dem Chip der Karte gespeichert, mit der man bezahlt – zum Beispiel der Kreditkarte oder dem Swisspass.
Zahlen mit dem Swisspass klappt oft nicht
Bis 2035 wollen die Betriebe des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz alle Billettautomaten abschaffen. Der Ticketverkauf beim Buschauffeur soll schon früher verschwinden.
Der Augenschein von saldo in Davos und Chur zeigt: Der bargeldlose Ticketverkauf an den neuen Automaten in den Fahrzeugen ist kompliziert und fehleranfällig. So klappt das Zahlen mit dem Swisspass oft nicht. Bei einer Wanderin in Davos zeigte der Automat eine Fehlermeldung und forderte dazu auf, eine andere Karte zum Bezahlen zu wählen.
Grund: Nur der Swisspass der neusten Generation verfügt über eine Zahlfunktion. Und diese lässt sich nur benutzen, wenn sie zuvor im Internet freigeschaltet wurde. Wer das tut, erhält für seine Reisen eine Rechnung per Post – und bezahlt dafür einen Zuschlag von Fr. 2.90 pro Monat.
Nachteile für Kinder und ältere Fahrgäste
Neue Hürden gibt es auch für Passagiere, die keine Bezahlkarte haben, beispielsweise für Kinder: Sie können zwar beim Chauffeur mit Bargeld eine Guthabenkarte für 10 oder 20 Franken kaufen. Das Billett müssen sie aber trotzdem am Automaten lösen. Und ein allfälliges Restguthaben gibt es nur an den verbliebenen bedienten Schaltern zurück.
Ältere Fahrgäste laufen zudem Gefahr, beim Lösen des Tickets am Automaten im fahrenden Bus zu stürzen. Pro Senectute Graubünden bot deshalb in Zusammenarbeit mit den betroffenen Verkehrsbetrieben Kurse für Senioren an. Dabei sollten diese lernen, wie das Ticket elektronisch am einfachsten zu lösen ist. Über hundert Senioren meldeten sich an. Das «Bündner Tagblatt» war bei einer Schulung dabei. Eine Teilnehmerin sagte gegenüber der Zeitung: «Ich will nicht die alte Frau sein, die im Bus am Automaten stürzt.»
Für Unverständnis bei den Kunden sorgt auch, dass in den Regionen beliebte, einfachere Systeme für den Ticketkauf ersetzt wurden: Im Oberengadin zum Beispiel gab es die Easydrive-Karte. Sie liess sich beliebig oft aufladen, und die Benutzer konnten sie zum Bezahlen am Automaten im Bus oder am Bahnhof einfach an das Lesegerät halten. Weshalb ersetzt man also ein gut funktionierendes System? Thierry Müller, Abteilungsleiter öffentlicher Verkehr beim Kanton Graubünden, behauptet gegenüber saldo: «Easydrive ist am Ende seiner Lebensdauer. Geht etwas kaputt, können wir die Teile nicht mehr ersetzen.»
Ernst Tobler aus Zizers GR war über 20 Jahre als Projektleiter für Passagierinformationssysteme im öffentlichen Verkehr tätig und lernte Ticketzahlsysteme wie Octopus in Hongkong oder Oyster in London kennen. Dabei kauft der Kunde eine Wertkarte und hält sie beim Ein- und Aussteigen an das Lesegerät. Der entsprechende Betrag wird dann abgebucht. Für Ernst Tobler steht fest: «So, wie das System Venda jetzt funktioniert, ist es untauglich.»
Thierry Müller vom Graubündner Amt für öffentlichen Verkehr räumt Probleme ein: «Wir sind nicht da, wo wir sein möchten.» Bei Billettkontrollen lasse man deshalb Augenmass walten. Ziel sei es, dass Reisende im Bus in Zukunft nur noch mit einer einzigen Karte ein- und auschecken müssten.
Ticketsystem soll in der ganzen Schweiz gelten
Fazit: Das Digitalticketsystem Venda hat sich in der Praxis bisher nicht bewährt – trotzdem soll es als Modell für den öffentlichen Verkehr in der ganzen Schweiz gelten. Thierry Müller gibt sich gegenüber saldo zuversichtlich: «Wir gehen davon aus, dass sich das System in der Schweiz durchsetzen wird.» Die Kunden haben dazu offensichtlich nichts zu sagen.
Initiative will Bargeld als Zahlungsmittel bewahren
Die Freiheitliche Bewegung Schweiz sammelt zurzeit Unterschriften für eine Volksinitiative mit dem Titel «Wer mit Bargeld bezahlen will, muss mit Bargeld bezahlen können». Die Initiative verlangt, dass «an einer genügenden Anzahl von Kassen mit Münzen oder Banknoten bezahlt werden kann». Im Initiativtext explizit erwähnt sind «Nah- und Fernverkehr am Ort des Fahrtantritts oder im Verkehrsmittel».
Die Sammelfrist läuft bis zum 21. September 2024. Weitere Infos gibt es im Internet auf www.ichzahlebar.ch.