Der Schaffhauser Kantonschemiker Kurt Seiler und der Chemikalieninspektor Mathias Breimesser sitzen in der Stube von Eva Bürki (Namen der Testpersonen geändert). Die 76-jährige Frau aus Stetten SH hat einen viel zu hohen Gehalt an per- und polyfluorierten Alkylsubstanzen (PFAS) im Blut. Die Industrie verwendet die hitzebeständigen, fettund wasserabweisenden Stoffe für Produkte wie Kosmetika, Teflonpfannen und Textilien.
Eva Bürki befürchtet, dass PFAS sie bereits krank gemacht haben. Sie hat einen zu hohen Cholesterinspiegel und musste wegen einer Herz-Kreislauf-Erkrankung operiert werden. Der Kantonschemiker will herausfinden, wie die Chemikalien ins Blut der Seniorin gelangen.
PFAS erhöhen das Risiko von schweren Krankheiten
Bürki ist eine von 35 Personen aus 18 Kantonen, deren Blut saldo vom Zürcher Labor Medica auf Perfluoroctansäure (PFOA) und Perfluoroctansulfonsäure (PFOS) untersuchen liess. Ergebnis: Alle Teilnehmer vom 7-jährigen Buben bis zur 89 Jahre alten Heimbewohnerin hatten die problematischen Chemikalien im Blut. Laut Studien können PFOA und PFOS das menschliche Hormon- und Immunsystem beeinträchtigen, den Cholesterinspiegel und das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöhen sowie die Leber schädigen.
PFOA gilt zudem als krebserregend, PFOS als möglicherweise krebserregend. PFOA und PFOS reichern sich in Organen an und können jahrzehntelang im Körper bleiben. Die Schweiz verbot den Einsatz von PFOA ab Juni 2021. Für PFOS gilt seit 2011 ein weitgehendes Verbot. Für die meisten PFAS-Stoffe gibt es aber nach wie vor keine Grenzwerte oder Verbote. Mehrere Tausend PFAS wurden seit den 1940er-Jahren hergestellt.
Verringerte Fruchtbarkeit und zu tiefes Geburtsgewicht
Nur 3 der 35 Teilnehmer der Stichprobe hatten einen so tiefen PFOA- und PFOS-Gehalt im Blut, dass kaum gesundheitliche Folgen zu befürchten sind. Die Einschätzung beruht auf der Beurteilung des deutschen Umweltbundesamts. 29 Teilnehmer wiesen PFOS-Werte auf, bei denen laut dem Umweltbundesamt Gesundheitsschäden «nicht auszuschliessen sind». Bei drei Frauen besteht aufgrund der hohen PFOS-Werte ein «akuter Handlungsbedarf zur Reduktion der Belastung».
Das Blut von weiteren vier Teilnehmern war zusätzlich mit erhöhten PFOA-Mengen belastet. Die zehn am stärksten belasteten Personen stammten aus der ganzen Schweiz. Maja Schmid (69) aus Neuheim ZG hatte den zweithöchsten PFOS-Gehalt im Blut. Auch Léa Martin (36) aus Genf hat für Frauen im gebärfähigen Alter zu viel PFOS im Blut. Das kann die Fruchtbarkeit verringern und zu einem tieferen Geburtsgewicht des Babys führen.
Die Eltern von Nina (9) und Tim (7) aus Stetten SH fordern Transparenz: «Wir können unsere Kinder nicht schützen, solange wir nicht wissen, wo PFAS enthalten sind.» Von den vier Personen mit den höchsten PFOS-Werten in der saldo-Stichprobe wohnen drei in umgebauten Bauernhäusern, die vierte ist auf einem Bauernhof aufgewachsen. Für Kantonschemiker Kurt Seiler kann das «ein Zufall» sein. Nach 90 Minuten verlässt er mit dem Chemikalieninspektor Eva Bürkis 180 Jahre altes Bauernhaus.
Im Auto befinden sich eine Bodenprobe aus dem Hühnerstall und Äpfel von Bürkis Baum. Laut Seiler könnte bei einem früheren Brand des Nachbarhauses Löschschaum mit PFOS in den Boden gesickert sein, was zu belasteten Hühnereiern und Äpfeln geführt haben könnte. Das sei aber nur eine von vielen Möglichkeiten. Für Seiler gibt es nur einen Weg: «PFAS müssen verboten werden.»
«Auch eine geringe PFAS-Belastung birgt ein Krebsrisiko»
Der Zürcher Umweltchemiker Martin Scheringer fordert mehr Schutz vor PFAS.
Was kann man gegen hohe PFASGehalte im Blut tun?
Im besten Fall lässt sich die Aufnahme der Stoffe verringern. Allerdings bleiben PFAS jahrelang im Körper und werden über Umwelt und Nahrung weiter aufgenommen. Selbst bei einer verminderten Aufnahme sinken die Konzentrationen im Blut nur langsam. Auch eine geringe PFOA- und PFOS-Belastung birgt noch immer ein Krebsrisiko.
Weltweit gibt es mehrere Tausend verschiedene PFAS. Was ist über sie bekannt?
Wir wissen grob, welche PFAS-Arten die Industrie für welche Zwecke einsetzt. Bis auf wenige Stoffe wie PFOA und PFOS ist über die einzelnen Chemikalien wenig bis gar nichts bekannt. Wir wissen nicht, wie gesundheitsschädlich sie sind und wer sie wo in welchen Mengen einsetzt oder eingesetzt hat. Die Industrie stellt PFAS seit bald 80 Jahren her. Kann man sich vor PFAS schützen? Nein. Die Stoffe sind in Böden, Gewässern und im Grundwasser und lassen sich nicht zurückholen. Da sich PFAS nicht abbauen, wird die Belastung der Umwelt auf unbestimmte Zeit, vielleicht sogar Jahrhunderte, nicht abnehmen.
Welche Massnahmen sind nötig?
PFAS-Quellen müssen eliminiert werden. Die Behörden müssen die Bevölkerung besser vor PFAS schützen – auch durch Verbote. Trinkwasser und Lebensmittel sollten PFAS-frei sein. Ohne Massnahmen werden die PFAS-Konzentrationen in den Menschen weiter zunehmen.