Das Parlament beschloss im Sommer 2012, den Strassenverkehr mit 20 Massnahmen sicherer zu machen. Seither wurden 17 davon umgesetzt: zum Beispiel die Lichtpflicht für Autos tagsüber, Velofahren auf öffentlichen Strassen erst im Alter ab sechs Jahren sowie härtere Strafen für Raser. Das Bundesamt für Strassen (Astra) sagt gegenüber saldo: «Die Via-Sicura-Massnahmen verbesserten die Verkehrssicherheit merklich.» Zwischen 2013 und 2015 seien damit mindestens 100 Tote und Schwerverletzte verhindert worden. 2017 kamen allerdings immer noch 230 Menschen ums Leben, 3654 wurden schwer oder sogar lebensgefährlich verletzt.
Trotzdem erliessen Bundesrat und Parlament mittlerweile eine Reihe von Bestimmungen, die den Zielen des Sicherheitspakets entgegenlaufen – und sogar zusätzliches Gefahrenpotenzial schaffen.
Das Rasergesetz wurde aufgeweicht
Vor knapp einem Jahr verwässerte das Parlament das Rasergesetz. Die Mindeststrafe für Raser von einem Jahr Gefängnis wurde gestrichen. Als Raser gilt, wer in einer Tempo-30-Zone mit 70 km/h fährt oder auf der Autobahn mit mehr als 200 km/h. Die Parlamentarier sprachen sich auch gegen Datenaufzeichnungsgeräte und Alkoholwegfahrsperren für Wiederholungstäter aus. Zudem verlangen sie vom Bundesrat, dass er die Mindestdauer für einen Führerausweisentzug bei Rasern reduziert. Heute liegt sie bei zwei Jahren. Von 2013 bis 2017 wurden 1589 Personen wegen eines Raserdelikts verurteilt.
Automatenfahrer dürfen auch geschaltete Autos lenken
Ab sofort dürfen Fahrer, die ihre Prüfung nur auf einem Auto mit Automatikgetriebe ablegten, auch Wagen mit Handschaltung fahren. Das beschloss der Bundesrat. Der Berner SP-Nationalrat Matthias Aebischer wehrte sich in der Verkehrskommission gegen diese Neuerung: «Wer einen Automaten fahren kann, ist noch lange nicht in der Lage, ein handgeschaltetes Auto zu fahren.» Doch Aebischer scheiterte mit seinem Antrag, beim bisherigen System zu bleiben. Auch der TCS war gegen die Neuerung. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung befürchtet «ein Chaos auf den Strassen und mehr Unfälle».
Lernfahrten schon für 17-Jährige
Ab 2021 dürfen Neulenker den Lernfahrausweis schon mit 17 beantragen. Zur praktischen Prüfung zugelassen werden sie allerdings wie bisher erst mit 18 Jahren. «Junge Leute», schreibt das Bundesamt, «sollen die Möglichkeit erhalten, vor der Führerprüfung mehr Fahrpraxis zu sammeln».
Ganz anders sieht man das bei der Stiftung für Verkehrssicherheit Road Cross Schweiz. Sie befürchtet einen negativen Effekt auf die Verkehrssicherheit: «Junglenker verursachen Unfälle in der Regel aufgrund von mangelndem Gefahrenbewusstsein und einer erhöhten Risikobereitschaft.»
Die Strassen werden weniger gut ausgeleuchtet
Seit Jahren dimmen Bund, Kantone und Gemeinden nachts auf ihren Strassenabschnitten vielerorts die Beleuchtung – oder schalten sie ganz aus. Reklamationen und Sicherheitsbedenken der Bevölkerung verpuffen. Selbst wenn eine Gemeinde – wie etwa Illnau im Kanton Zürich – die Strassenlampen kaufen und auf eigene Rechnung weiterbetreiben will, blockt das Bundesamt für Strassen ab.
Dabei wird nicht einmal erhoben, wo die Strassen dunkel werden und ob das einen Einfluss auf die Unfallhäufigkeit hat. Das Bundesamt startet eine entsprechende Studie erst dieses Jahr. Aussagekräftige Ergebnisse sind erst etwa in drei Jahren zu erwarten.
Transporteure müssen Camions nicht sicherer machen
Allein von Oktober bis Dezember 2018 kam es zu neun schweren Unfällen mit Lastwagen. In sechs Fällen wurden Velofahrer und Fussgänger schwer verletzt, drei junge Menschen starben – in Herzogenbuchsee BE und in Dietlikon ZH zwei Teenager, die mit dem Velo unterwegs waren, in Effretikon ZH ein Zehnjähriger auf seinem Trottinett. Das Problem: Wegen des toten Winkels sehen die Chauffeure Velos oder Fussgänger kaum oder gar nicht, die sich direkt vor, neben oder hinter ihnen befinden. Mit elektronischen Abbiegeassistenten und Radarsensoren liessen sich gut 60 Prozent der schweren Unfälle vermeiden, wie saldo und der «K-Tipp» schon mehrmals berichteten. Die Kosten, um ein Leben zu retten, wären bescheiden: zwischen 1200 und 3000 Franken pro Fahrzeug (saldo 15/2018). Freiwillig rüsten die Transportunternehmen ihre Camions nur zögerlich um. Damit es vorwärtsgeht, bräuchte es ein Obligatorium. Der TCS, das Bundesamt für Strassen und der Nutzfahrzeugverband Astag sehen jedoch keinen dringenden Handlungsbedarf.
Gefährliche Verkehrsstellen werden nicht entschärft
Auch vor anderen sicherheitsrelevanten Aspekten verschliessen die Behörden die Augen. Etwa wenn es darum geht, gefährliche Stellen zu entschärfen. Ein Beispiel: Vor gut zwei Monaten raste ein Flixbus in die Betonwand bei der Autobahnausfahrt Zürich-Wiedikon. Zwei Menschen starben, über 40 wurden verletzt. An genau dieser Stelle hatte es in den Jahren zuvor schon drei schwere Unfälle mit Toten und Schwerverletzten gegeben. Grund: Unaufmerksame Fahrer können bei schlechter Sicht auf eine Spur geraten, die abrupt in einer Sackgasse mit einer Betonmauer endet.
Trotzdem hatte das Astra Betonelemente entfernt, die diesen gefährlichen Spurwechsel verhinderten. Signalisation und Markierungen entsprächen den Vorschriften und seien ausreichend, sagt das Bundesamt nur. Und behauptet: «Wir halten fest, dass diese Stelle nicht als Unfallschwerpunkt gilt.» Und: «Die Mauer hat das Fahrzeug zurückgehalten.» Bei einem Unfall im Februar 2016 sei diese Mauer noch von einem LKW durchbrochen worden. Damals stürzte ein ausländischer Lastwagen 15 Meter tief in die Sihl. Der Fahrer überlebte schwer verletzt.