Das Schmerzmittel Paracetamol kann man auch zwei Jahre nach dem aufgedruckten Ablaufdatum schlucken – es wirkt immer noch gleich gut. Das zeigt eine 2006 veröffentlichte Studie der US-Heilmittelbehörde «Food and Drug Administration». Auch das Anti-Allergie-Mittel Epipen ist laut einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Studie von Forschern der Universität Kalifornien drei Jahre nach dem Ablaufdatum noch ausreichend wirksam.
Tamiflu: Haltbarkeitsfrist auf zehn Jahre verlängert
Das sind keine Einzelfälle. Die US-Heilmittelbehörde prüfte ab 1986 über 20 Jahre lang bei insgesamt 3005 Packungen von Medikamenten, ob sie nach dem Ablauf noch wirksam waren. Ergebnis: Von 122 Arzneimitteln behielten 88 Prozent ihre volle Wirksamkeit bis fünf Jahre nach ihrem Ablaufdatum. Darunter waren mehrere Antibiotika, das Schlafmittel Diphenhydramin, Jodtabletten, fentanylhaltige Schmerzmittel und Entzündungshemmer wie Naxopren.
Dass Medikamente viel länger haltbar sind, zeigt das Beispiel Tamiflu. Das Bundesamt für Gesundheit, die Armee und Kantone kauften im Jahr 2009 grosse Mengen des Grippemittels (saldo 13/2011). Sie wollten es gegen die Schweinegrippe einsetzen. Der grösste Teil blieb ungenutzt. Swissmedic schob auf Antrag des Herstellers Roche mehrmals das Verfallsdatum nach hinten. Aktuell gilt das im Januar 2009 produzierte Tamiflu bis Januar 2019 als haltbar – zehn Jahre lang. Ursprünglich betrug die Haltbarkeitsfrist nur zwei Jahre.
Für Etzel Gysling, Herausgeber der Fachzeitschrift «Pharma-Kritik», ist klar: «Die meisten festen Medikamente sind viel länger haltbar, als auf der Packung steht.»
Das Bundesamt für Gesundheit rät dennoch, abgelaufene Heilmittel ausnahmslos in die Apotheke zurückzubringen. Einige Beispiele:
Allein die Schweizer Armee entsorgt pro Jahr knapp 12 Tonnen Arzneimittel. Geschätzte 80 Prozent sind laut einem Sprecher der Armee abgelaufen. Der Rest waren Medikamente, die nicht korrekt gelagert wurden.
Das Spital Interlaken-Frutigen-Meiringen mustert laut Chefapotheker Enea Martinelli jedes Jahr abgelaufene Notfallpräparate für rund 50 000 Franken aus.
Die Kunden in der Apotheke Gränichen AG geben pro Jahr rund 450 Kilo Alt-Medikamente ab. Geschätzte 60 Prozent davon sind laut Apothekerin Salomé Meier abgelaufene Präparate.
Rund 15 000 Tonnen Medikamente landen so gemäss dem Bundesamt für Umwelt pro Jahr in der Verbrennung. Der Apothekerverband Pharmasuisse schätzt ihren Wert auf 500 Millionen Franken im Jahr. Wie viele brauchbare Medikamente darunter sind, ist offen. Der Bund hat keine Zahlen.
Die Hersteller können das Ablaufdatum der Medikamente frei bestimmen. Sie müssen der Heilmittelbehörde Swissmedic lediglich Testergebnisse zur Haltbarkeit ihrer Produkte vorlegen. Die Behörde prüfe diese Daten. Swissmedic darf laut dem Bundesrat die Hersteller «nicht verpflichten, eine Verlängerung der Haltbarkeitsdauer vorzunehmen, indem sie weiterführende Studien anordnet».
Genau das fordert aber zum Beispiel der St. Galler Krebsforscher Thomas Cerny. Er sieht vor allem bei teuren und selten verwendeten Mitteln Sparpotenzial. Für Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm», ist klar: «Eine kurze Haltbarkeitsdauer ist für die Firmen umsatzfördernd.»
«Hersteller sollten eine vernünftige Frist angeben»
Etzel Gysling verlangt differenzierte Haltbarkeitsangaben für die Konsumenten: «Hersteller sollten eine vernünftige Frist nennen, in der das Mittel noch zu verwenden ist.» Sie müssten zudem angeben, ob nach dem Verfallsdatum mit einem teilweisen Verlust des Nutzens oder mit unerwünschten Wirkungen zu rechnen sei. Auch brauche es klare Angaben zur Aufbewahrung, wie «Im Kühlschrank ungeöffnet bis zu zwei Jahren haltbar» oder «Die angebrochene Flasche bleibt mindestens drei Monate einwandfrei».
Gysling rät Konsumenten: «Feste Formen von Medikamenten kann man mindestens bis zu einem Jahr nach dem Ablaufdatum bedenkenlos verwenden.» Es lägen keine Berichte zu bedenklichen Auswirkungen vor. Flüssige Arzneien hingegen seien wesentlich rascher unbrauchbar.