Barbara Marty Kälin ist Politikerin, 54-jährig. Sie sass sieben Jahre im Nationalrat. Im Oktober 2007 schaffte sie die Wiederwahl nicht mehr. Sie wurde arbeitslos. Marty Kälin hat drei Kinder, ihr Mann ist schwer krank und nicht arbeitsfähig. Mit ihrem Einkommen als Nationalrätin ernährte sie ihre Familie. Nach der Abwahl ereilte sie als Arbeitslose der nächste Schock. Weil sie nur 6 statt der geforderten 10 Bewerbungen pro Monat vorweisen konnte, strich ihr das Regionale Arbeitsamt (RAV) die Taggelder – das Arbeitslosengeld für fast einen Monat. Ein hartes Verdikt.
So wie Barbara Marty Kälin ergeht es vielen, die den Job verlieren. Auf den RAV wird Arbeitslosen selbst für kleine Vergehen das Taggeld massiv gekürzt. Einstelltage heisst das im Jargon der Arbeitslosenversicherung. «Die Sanktionen stützen sich auf das Gesetz», sagt Serge Gaillard, der Chef der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Die Arbeitslosenversicherung bezahle 70 respektive 80 Prozent des versicherten Lohnes, helfe bei der Stellensuche und biete Ausbildungskurse an. Gaillard: «Da kann sie auch Ansprüche an die Versicherten stellen.»
saldo-Recherchen zeigen: Jeder fünfte Arbeitslose in der Schweiz kann heute offenbar diese Ansprüche nicht erfüllen und muss Einstelltage hinnehmen. Über 7,5 Millionen Einstelltage haben die Arbeitslosenbehörden und -kassen zwischen 2000 und 2007 verfügt. Wenn man die vom Seco berechneten durchschnittlichen Taggelder für jedes einzelne Jahr mit den Einstelltagen hochrechnet, kommt man auf eine Gesamtsumme von über einer Milliarde Franken. So viel Geld hat die Arbeitslosenversicherung den Versicherten in den letzten sieben Jahren vorenthalten.
Verkehrsdelikte werden viel weniger hart bestraft
Im Einzelfall sind das Strafen von mehreren Tausend Franken. Kein Wunder, haben auch RAV-Leute mit den Sanktionen mehr und mehr Mühe. «Wenn Sie einem Familienvater mitteilen müssen, dass ihm das Arbeitslosengeld um die Hälfte gekürzt wird, ist das kein Honigschlecken», erzählt ein RAV-Mitarbeiter aus Bern.
Viele solcher Fälle landen auf dem Schreibtisch von Unia-Gewerkschafterin Judith Venetz: «Wir müssen regelmässig einschreiten, weil Einstelltage mit ungerechtfertigten Pflichtverletzungen begründet wurden.» So wisse jedes Kind, dass Baufirmen im Berggebiet im Winter nicht arbeiten. «Ich kenne aber Fälle, wo man Bauarbeitern das Arbeitslosengeld kürzte, weil sie sich im Winter nicht bei Baufirmen beworben haben.»
Die Sanktionen sind zudem unverhältnismässig. Zum Vergleich: Wer bei Rot über die Kreuzung fährt, riskiert eine Busse von 250 Franken. Wer hingegen einen Informationstag des RAV schwänzt, erhält zum Beispiel im Kanton Bern fünf Einstelltage aufgebrummt. Im Falle eines 50-jährigen Berners bedeutete dies eine Kürzung des Arbeitslosengeldes von 1500 Franken.
Die Abzüge explodierte 2002: Die Zahl der Einstelltage stieg innert eines Jahres um 300 000 auf fast eine Million. Ein Jahr später waren es schon über eine Million.
Hat das Seco die Arbeitslosenbehörden angewiesen, die Schraube anzuziehen? «Wir sind in der Schweiz in dieser Beziehung relativ streng. Dafür haben wir im internationalen Vergleich gute Leistungen», erklärt Gaillard. Es sei aber nicht so, «dass wir in den letzten Jahren Weisungen erlas-sen haben, wonach vermehrt sanktioniert werden soll».
Das Seco hat aber einen Raster erstellt, wie man Verschulden bestrafen muss. Die entscheidende Behörde hat zwar einen gewissen Spielraum, Abweichungen vom Raster müssen aber begründet werden. Und in einem Kreisschreiben des Seco steht im «Kapitel D, Sanktionen» klar: «Eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung hat bei jedem Verschulden, das heisst auch bei leichter Fahrlässigkeit, zu erfolgen.»
Strafmass: Je nach Vergehen bis zu 60 Einstelltage
Wer seine Stelle kündigt, weil er mit dem neuen Chef nicht klarkommt und dann nicht sofort wieder einen Job findet, muss mit bis zu 60 Einstelltagen rechnen. Dasselbe Strafmass gilt für Personen, die eine zugewiesene Arbeit nicht antreten oder am Morgen nicht 90 Minuten Zug fahren wollen. Wer falsche Angaben macht oder sich zu wenig um einen Job bemüht, riskiert bis zu
30 Einstelltage. Einen Termin beim RAV vergessen, kann bis zu 16 Einstelltage kosten. Gegen die Sanktionen kann der Arbeitslose zwar Einsprache erheben. Ob er damit durchkommt, hängt aber stark von seinem Wohnkanton ab. Im Wallis sind Rekurse «praktisch aussichtslos», sagt Kilian Jaun, Chef der Unia-Arbeitslosenkasse im Wallis: «90 Prozent der Einsprachen werden von den zuständigen Instanzen zurückgewiesen», sagt er. Im Kanton Zürich jedoch kommt es nicht selten vor, «dass das Sozialversicherungsgericht Einstelltage ganz oder teilweise aufhebt», weiss Christian Leu, Leiter der Syna-Arbeitslosenkasse.
Auch die Zahl der Sanktionen ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Nichts zu lachen haben Arbeitslose in Obwalden. In den Jahren 2002 bis 2004 wurde hier fast jeder zweite Arbeitslose mit Einstelltagen bestraft, im Jahre 2007 noch jeder dritte.
Auch nachsichtige Kantone greifen immer härter durch
Auch die Kantone Nidwalden und Graubünden gehen mit ihren Arbeitslosen hart um. Am wenigsten sanktionieren Kassen und RAV in den Kantonen Appenzell-Innerrhoden, Genf, Jura und Wallis. Diese Kantone holen aber auf. 2002 mussten in Genf 11 Prozent der Arbeitslosen Kürzungen des Arbeitslosengeldes hinnehmen. Inzwischen sind es bereits 17 Prozent. Genau gleich ist die Entwicklung im Kanton Wallis.
Arbeitslose: So vermeiden Sie Abzüge bei den Taggeldern
Arbeitslose erhalten eine Zeit lang Taggelder in der Höhe von 70 bis 80 Prozent des früheren Einkommens. Dieser Anspruch kann laut Gesetz in bestimmten Fällen gekürzt werden. Am häufigsten greifen die Arbeitsämter zu dieser Sanktion:
- wenn jemand durch «eigenes Verschulden» arbeitslos wird,
- sich persönlich «nicht genügend um zumutbare Arbeit bemüht» oder
- Weisungen des Arbeitsamtes nicht befolgt, zum Beispiel zugewiesene Kurse abbricht.
Der Spielraum der Arbeitsämter und der Arbeitslosenkassen ist gross, die Sanktionen in der Schweiz von Kanton zu Kanton verschieden (siehe Artikel oben). Wichtig deshalb:
- Keine Stelle unbegründet kündigen, bevor eine neue Arbeit gefunden wurde. Es drohen maximal 60 Einstelltage.
- Falls ein Arbeitsplatz aus gesundheitlichen Gründen gekündigt wird, dies unbedingt im Kündigungsschreiben erwähnen. Eine ärztliche Bestätigung ist von Vorteil, falls die Kasse am Kündigungsgrund zweifelt.
- Spätestens während der Kündigungsfrist eine neue Stelle suchen.
- Alle Bemühungen auf der Arbeitssuche akribisch dokumentieren. Telefonische Abklärungen in einem eigenen Protokoll festhalten (Datum, Unternehmen, Ansprechpartner).