Grosse Ansammlungen von Menschen sind für Marianne Schilliger aus Nidau BE (Name geändert) schwer zu ertragen. «Mir wird schlecht», sagt die 49-Jährige. Sie leidet an Morbus-Menière-Schwindel, also an regelmässigen Schwindelattacken. Ursache ist eine Erkrankung des Innenohrs. Fachleute vermuten, dass die Produktion der Innenohrflüssigkeit gestört ist (siehe Grafik im PDF). Die Folgen sind Schwindel, Augenzittern, Ohrensausen und Hörverlust.
Abhilfe verspricht das Medikament Betaserc. Es enthält den Wirkstoff Betahistin und soll den Schwindel verringern. Bei Schilliger blieb Betaserc jedoch wirkungslos. Sie nimmt es deshalb nicht mehr.
«Der Nutzen des Medikaments ist nicht belegt»
Das Medikament steht seit längerem in der Kritik. Gemäss Georgios Mantokoudis, Hals-Nasen-Ohren-Spezialist am Berner Inselspital, sind die Forschungsdaten zu Betaserc «umstritten». Arzt Wolfgang Becker-Brüser von der Fachzeitschrift «Arznei-Telegramm» wird deutlicher: Die Wirkung des Mittels sei «unzureichend untersucht und der Nutzen nicht belegt». Becker-Brüser stützt sich unter anderem auf eine Übersichtsstudie von Wissenschaftlern des unabhängigen Netzwerks Cochrane.Eine deutsche Studie kam vor drei Jahren zum Schluss, dass Betaserc nicht besser nützt als ein Schein-medikament. 221 Teilnehmer erhielten über 9 Monate Betahistin oder ein Placebo. Ergebnis: Mit dem Scheinmedikament hatten die Teilnehmer noch weniger Schwindelattacken als mit Betahistin. Die Forscher veröffentlichten die Studie im renommierten Fachblatt «British Medical Journal».
Betaserc-Herstellerin Mylan Pharma in Steinhausen ZG beruft sich auf klinische Studien, die zeigen sollen, dass Betaserc wirke. Die Studien liegen saldo vor. Sie sind teilweise von Pharmafirmen finanziert.
Ärzte verschreiben das Betaserc häufig. Denn der Menière-Schwindel ist schwierig zu behandeln. Etzel Gysling ist Arzt und Herausgeber des Fachblatts «Pharma-Kritik». Er weiss: «Für Morbus-Menière-Schwindel gibt es keine Behandlung, die nachweislich wirkt.» Man könne nur die Symptome lindern.
Unbestritten ist: Stress begünstigt Menière-Schwindel. Wer Sport treibt, genügend schläft und sich im Alltag viel bewegt, kann der Krankkeit entgegenwirken und Schwindelattacken reduzieren. Auch eine ausgewogene Ernährung mit wenig Salz sowie ein Verzicht auf Alkohol, Kaffee und Rauchen können dazu beitragen, dass die Anfälle seltener auftreten.
Physiotherapeut Stefan Schädler aus Sumiswald BE behandelt Patienten mit Schwindel und Gleichgewichtsstörungen. Er rät: «Patienten sollten mehrmals am Tag Gleichgewichtsübungen machen.» Besonders geeignet seien etwa das Stehen mit geschlossenen Augen oder die Fussschaukel. Dabei stellt man sich auf die Fersen und rollt mit beiden Füssen gleichzeitig auf die Zehenspitzen ab und wieder zurück.
Auch Marianne Schilliger trainiert jetzt ihren Gleichgewichtssinn – mit Standup-Paddling. «Wenn ich auf dem Brett im Wasser bin, gehts mir gut.» saldo hat in einem Merkblatt nützliche Übungen zusammengestellt, um Schwindelanfällen und Stürzen entgegenzuwirken (siehe unten).
Röhrchen im Trommelfell als Alternative
Neben Betaserc verschreiben Ärzte oft auch Kortison gegen die Schwindelattacken. Es wirkt Entzündungen und Schwellungen im Innenohr entgegen, sodass überschüssige Flüssigkeit des Innenohrs besser abfliessen kann. Ähnlich wirken harntreibende Medikamente (Diuretika). Auch hier gilt: Der Nutzen ist umstritten.
Spritzen mit dem Antibiotikum Gentamicin können das Gleichgewichtsorgan ausschalten, doch das kann zu einem vollständigen Hörverlust führen. Zudem zeigt eine kleine Studie des österreichischen Universitätspitals in Krems, dass eine Injektion nur jedem dritten Patienten hilft.
Zeigen Medikamente keine Wirkung, setzen Ärzte im Spital oft ein Röhrchen in das Trommelfell des Patienten ein. Es soll das Innenohr belüften. Eine ungenügende Luftzufuhr kann ebenfalls zu Schwindel führen. Immerhin: Sieben von zehn Patienten geht es gemäss dem Inselspital Bern nach der Operation besser.
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