Seit 1999 kassiert der Bund Geld, das eigentlich für die AHV bestimmt ist. Allein im vergangenen Jahr strich er 476 Millionen Franken ein. Bis Ende 2016 flossen insgesamt über 7,6 Milliarden Franken in die Bundeskasse. Dieses Jahr wird die 8-Milliarden-Grenze überschritten (siehe Tabelle im PDF). Bei dem Geld handelt es sich um den sogenannten «Bundesanteil am Demografieprozent». Quelle ist die Mehrwertsteuer.
Am 28. November 1993 stimmten die Schweizer mit der Einführung der Mehrwertsteuer einem Verfassungsartikel zu, der dem Parlament die Kompetenz erteilte, die Mehrwertsteuer wenn nötig um ein Prozent zu erhöhen. Die Mehreinnahmen sollten der AHV zugute kommen. Allerdings nur, wenn deren Finanzierung «wegen der Entwicklung des Altersaufbaus» nicht mehr gewährleistet sei. Damals zeichnete sich ab, dass der finanzielle Bedarf der AHV durch das zunehmende Alter der Bevölkerung steigen könnte.
Im Jahr 1997 kam der Bundesrat auf diese Verfassungsbestimmung zurück und beantragte beim Parlament, die Mehrwertsteuer für die AHV von 6,5 auf 7,5 Prozent zu erhöhen. Nur: Als es an die konkrete Umsetzung ging, wollte der Bundesrat nicht das ganze Demografieprozent der AHV zukommen lassen, wie es die Verfassung ausdrücklich vorschrieb.
Für den damaligen Finanzminister Kaspar Villiger kam die neu sprudelnde Geldquelle wie gerufen. Vom Demografieprozent wurden pro Jahr über 2,1 Milliarden Franken erwartet. Der Bundesrat schlug deshalb vor, einen Teil in die Bundeskasse umzuleiten, statt der AHV zukommen zu lassen. Seine Argumentation: Der Bund sei gesetzlich verpflichtet, der AHV 17 Prozent ihrer Ausgaben zu finanzieren (heute sind es 19,55 Prozent). Somit führe «die ungünstige Entwicklung des Altersaufbaus nicht nur zu finanziellen Mehrbelastungen bei der AHV und der IV, sondern insbesondere auch beim Bund», so der Bundesrat. Die Bundeskasse müsse deshalb vom Demografieprozent 17 Prozent erhalten, nur der Rest sei für die AHV. Bloss: Der Bund muss seinen AHV-Anteil ohnehin zahlen, völlig unabhängig von einer Erhöhung der Mehrwertsteuer. Das Geld stammt vor allem aus der Tabak- und Alkoholsteuer sowie dem Gewinn der Spielbanken.
Villigers Trick vom Parlament durchgewunken
Das Parlament unterstützte den Vorschlag Villigers. Die Berner FDP-Ständerätin Christine Beerli etwa bezeichnete es als bestechendes Argument, dass der Bundeshaushalt mit dieser Lösung «ganz direkt» entlastet werde. Die SP-Fraktion im Nationalrat nannte Villigers Trick einen «kleinen Schönheitsfehler», trotzdem unterstützte sie die Abzweigung der Gelder ebenfalls. Im März 1998 stimmte das Parlament zu – der Ständerat einstimmig, der Nationalrat mit 130 zu 39. Im Januar 1999 trat der Bundesbeschluss in Kraft. Ab dann flossen 17 Prozent des Demografieprozents in die Bundeskasse.
Dass sich das Parlament über die Verfassung hinwegsetzen kann, ist ein Schweizer Unikum. Im Gegensatz zu den meisten Staaten hat die Schweiz kein Verfassungsgericht. Folge: Niemand kann Parlamentsbeschlüsse, die die Verfassung verletzen, bei einer richterlichen Instanz anfechten. Der Wille der Stimmbürger, der zum Verfassungsartikel führte, lässt sich von Parlamentariern so ungestraft missachten.
Immerhin: Es gab mehrere Versuche, die Umleitung der AHV- Gelder in die Bundeskasse zu korrigieren. In der Herbstsession 2000 bezeichnete der St. Galler SP-Nationalrat Paul Rechsteiner die Abzweigung des Anteils in die Bundeskasse als juristische Akrobatik: «Die Verfassungsbestimmung spricht klar von der Finanzierung der AHV/IV und mit keinem Wort von der Finanzierung des Bundesanteils.» Eine Korrektur des Fehlers scheiterte aber knapp im Ständerat.
Zuletzt sollte die «Altersvorsorge 2020», über die im September dieses Jahres abgestimmt wurde, den Verstoss gegen die Verfassung und den Volkswillen korrigieren. Mit der Reform wäre künftig das ganze Demografieprozent an die AHV gegangen – zusammen mit den zusätzlichen Mitteln aus der geplanten Mehrwertsteuererhöhung.
Nach dem Nein zur «Altersvorsorge 2020» fühlt sich der Bundesrat trotz klarer und gültiger Verfassungsbestimmung aus dem Jahr 1993 weiterhin nicht verpflichtet, das ganze Demografieprozent in die AHV einzuzahlen. Er will die 17 Prozent davon weiterhin für andere Ausgaben der Bundeskasse verwenden. Im nächsten Jahr sollen der AHV so 442 Millionen entzogen werden.
Plötzlich braucht die AHV offenbar kein Geld mehr
Dabei würde die AHV laut Bundesrat Alain Berset das Geld ja dringend brauchen. Laut einer Prognose seines Bundesamts für Sozialversicherung, die im Vorfeld der Abstimmung verbreitet wurde, wären die heutigen AHV- Reserven im Jahr 2031 aufgebraucht, die AHV dann mit rund 3 Milliarden im Minus. Trotzdem beantragte der Bundesrat dem Parlament, den grössten Teil der 442 Millionen in den Bahninfrastrukturfonds zu überweisen – und mit dem Rest Schulden der Bundeskasse abzubauen.
Braucht die AHV also plötzlich kein Geld mehr? Waren die düsteren Szenarien zu ihrer Zukunft übertrieben? Der Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi sagt: «Die AHV ist nicht saniert und bräuchte dringend zusätzliche Mittel. Die 442 Millionen wären ein guter Anfang gewesen, sonst muss man nachher, in zwei, drei Jahren, umso grössere Beträge in die Hand nehmen.» Aeschi konnte die Finanzkommission des Nationalrats für eine entsprechende parlamentarische Initiative gewinnen. Damit wäre eine Gesetzesänderung im Schnelldurchgang aufgegleist worden, um die Millionen nächstes Jahr der AHV zu überweisen. Alle seien sich einig gewesen, dass dieser Baustein sinnvoll gewesen sei, sagt Aeschi. «Niemand hat diese Komponente der Vorlage bestritten.»
Aus dem Lager der FDP erhielt Aeschi zwar Unterstützung. Doch kaum lagen die 442 Millionen auf dem Tisch, kamen neue Begehrlichkeiten auf. So fand SP-Nationalrat Matthias Aebischer, dieses Geld gehöre in die Bildung. CVP-Ständerat Peter Hegglin wiederum wollte das Geld lieber für den Abbau von Bundesschulden einsetzen. Am 7. November lehnte die Finanzkommission des Ständerats die parlamentarische Initiative mit 8 zu 5 Stimmen ab. Ihr Argument: Das sei zu wenig, um der AHV wirklich zu helfen. Damit ist der Vorstoss vom Tisch.
Düstere Prognosen lassen sich nicht mehr halten
Zum Verständnis der Grössenordnung der vorenthaltenen Beträge: Die AHV-Rechnung schloss bisher mit Ausnahme des Jahrs 2015 stets mit einem Plus ab. Damals lag das Minus bei 558 Millionen. Ein Jahr später resultierte ein Plus von 438 Millionen. Im laufenden Jahr prognostiziert das Bundesamt für Sozialversicherungen ein Minus von 101 Millionen, 2018 ein Minus von 119 und 2020 ein Minus von 209 Millionen.
Würde das Demografieprozent künftig jedes Jahr in vollem Umfang an die AHV fliessen, würde die AHV-Rechnung selbst nach den pessimistischen Prognosen des Bundesamtes noch jahrelang mit einem Plus abschliessen. Die Reserven der AHV von heute knapp 45 Milliarden würden sich bis ins Jahr 2023 weiter erhöhen. Und das, obwohl das Parlament der AHV seit 1999 Gelder in der Höhe von rund 8 Milliarden vorenthalten hat.