Schaut die 79-jährige Elisabeth K.* aus dem Fenster ihres Hauses in Mühleberg-Oberei BE, sieht sie unten an der Aare das Atomkraftwerk. Dieses AKW gibt mehr Radioaktivität an die Umgebung ab als alle anderen in der Schweiz. Elisabeth K. macht sich deswegen Sorgen: «In unserem Quartier erkranken viele Menschen an Krebs – auch viele jüngere.»
Vor zwanzig Jahren begann es, erinnert sie sich. «Eine Anwohnerin bekam Leukämie und starb daran.» Sie blieb nicht die einzige. Mehr und mehr Menschen, die in der Nähe des AKWs lebten, bekamen Krebs. Elisabeth K. begann, eine Liste zu führen: Sie schrieb auf, wer im Dorf an Krebs erkrankte, wer daran starb und wo die Betroffenen wohnten.
Einträge wie diese reihen sich untereinander: «Quartier Oberei, Herr H.: 1999 erkrankt, 2004 gestorben. Frau H: 2007 erkrankt.» Elisabeth K. sagt: «Unser Quartier hat 15 Häuser. 12 Einwohner bekamen Krebs, die meisten starben daran. Manche waren keine 50 Jahre alt.» Im Dorfkern von Mühleberg hat sie 11 weitere Krebskranke gezählt, 5 in den Nachbarquartieren. Es könnten noch mehr sein: «Dort kenne ich nicht alle Anwohner», sagt sie.
Krebsregister bis anhin nur in 14 Kantonen
Einen Zusammenhang des Krebses mit dem AKW kann die Mühlebergerin nicht beweisen. Im Dorf leben mit 2600 Einwohnern zu wenige Menschen, um eine aussagekräftige Statistik zu führen. Es wäre Aufgabe des Bundes, ein Krebsregister zu führen, das alle Menschen in der Schweiz berücksichtigt. Das bestätigt der Genfer Epidemiologe Jean-Michel Lutz: «Nur ein nationales Register könnte zeigen, ob die Mühleberger Krebsfälle mit dem AKW zusammenhängen.» Doch ein solches Register fehlt (siehe saldo 18/07).
Schon vor zwölf Jahren forderte der Tessiner Krebsforscher und ehemalige SP-Nationalrat Franco Cavalli ein Krebsregister für die ganze Schweiz. Er erinnert sich: «Der damalige Bundesrat Pascal Couchepin verfolgte das Projekt nicht weiter.» Einige Entwicklungsländer sind der Schweiz voraus – etwa Botswana und Kolumbien. Martin Walter, Mitglied der Organisation «ÄrztInnen mit sozialer Verantwortung», sagt: «Im Vergleich dazu stecken wir in der Schweiz in einem mittelalterlichen Zustand.»
Bisher führen nur 14 Kantone ein Krebsregister. Sie erfassen damit 60 Prozent der Bevölkerung. Luzern baut zurzeit ein weiteres kantonales Register auf. Der Bund machte immerhin einen ersten Schritt: Seit drei Jahren finanziert er die Stiftung Nicer. Diese führt die Daten der kantonalen Krebsregister zusammen und wertet sie aus.
Doch Wissenschafter wie Silvia Ess vom Krebsregister St.Gallen-Appenzell sagen: «Das genügt nicht.» Denn ausgerechnet Bern, Solothurn und Aargau mit fünf AKWs haben kein Krebsregister. Silvia Ess: «Solange diese Kantone keine Register führen, lässt sich ein möglicher Zusammenhang zwischen Krebs und AKWs nicht klären.»
Kanton Bern verschiebt Registeraufbau «auf einen späteren Zeitpunkt»
Die Verunsicherung in Mühleberg ist gross. Denn vier Anwohner hatten Krebsarten, die durch radioaktive Strahlen ausgelöst werden können. Elisabeth K. berichtet: «Ein Mädchen und eine Frau hatten Leukämie, zwei Menschen Lymphdrüsenkrebs.» Unklar bleibt jedoch, ob die Radioaktivität tatsächlich der Auslöser war. Dies sagt auch Franco Cavalli: «Um das zu klären, muss man mehr über den Krebsfall wissen und Vergleichsdaten haben.»
Der Kanton Bern will trotzdem kein eigenes Krebsregister aufbauen. Der stellvertretende Kantonsarzt Thomas Schochat schreibt saldo, der Kanton sei zwar «durchaus bereit, den Aufbau eines kantonalen Registers zu veranlassen». Er könne jedoch nicht unabhängig handeln, solange der Bund an einem Krebsregister arbeite. Die Umsetzung sei somit auf «einen späteren Zeitpunkt verschoben». Der Kanton Aargau prüft immerhin, wie sich ein Krebsregister finanzieren lasse, sagt Sprecher Balz Bruder. Der Kanton Solothurn kündigt an, sich einem benachbarten Register anzuschliessen.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erarbeitet zwar ein Gesetz, das bessere Grundlagen für ein nationales Register schafft. Doch es sieht dieses nur als Teil eines gigantischen Diagnoseregisters, das auch unzählige Daten anderer Krankheiten sammeln soll.
«Das Krebsregister spart viel mehr Geld, als es kostet»
Das macht die Solothurner SP-Nationalrätin Bea Heim skeptisch. Sie fürchtet, dass das Krebsregister wieder nicht zustande kommt: «Das Projekt ist überdimensioniert. Das könnte schiefgehen.» Zudem ist nicht klar, wer das nationale Register bezahlen soll. Salome von Greyerz vom BAG sagt: «Der Zeitpunkt, um Geld für neue Projekte vom Bund zu fordern, ist nicht günstig.» Doch das Argument greift zu kurz, findet der grüne Nationalrat Geri Müller aus dem Aargau. Ein nationales Register könne viele Krebsfälle und damit Kosten verhindern. Müller: «Das Register spart viel mehr Geld, als es kostet.»
In Mühleberg wird Elisa-beth K. weiter aufschreiben, wenn Dorfbewohner an Krebs erkranken. Sie sagt: «Mir geht es nicht um mich, ich habe mein Leben gelebt. Mir geht es darum, die Jüngeren zu schützen.»
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*Name der Redaktion bekannt