Bundesrat Alain Berset stimmte 2019 in den Chor ein: «Die Milliardenumverteilungen, mit denen die Jungen zurzeit die Löcher in der 2. Säule stopfen müssen, sind ein Skandal», sagte er im Juli vor der Bundeshauspresse. Entsprechende Behauptungen von Pensionskassen und Versicherungen machten damals schon seit Jahren die Runde – mit freundlicher Unterstützung unkritischer Medien.
Das pausenlose Lamentieren über die angeblich zu hohen Renten, die sich ohne Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern nicht mehr voll finanzieren liessen, scheint Spuren zu hinterlassen. Darauf deutet eine aktuelle Umfrage des Forschungsinstituts GfK Switzerland im Auftrag von saldo hin. Laut dieser Umfrage glaubt rund ein Drittel der Deutschschweizer Bevölkerung, die Pensionskassen seien überschuldet. 57 Prozent sind der Meinung, dass das Geld für die Renten nicht nur aus dem angesparten Kapital der Pensionierten stammt, sondern auch aus Beiträgen der Erwerbstätigen.
Beide Meinungen sind falsch: Den Pensionskassen geht es heute so gut wie noch nie. Und die Einzahlungen der Versicherten genügen zusammen mit dem von den Pensionskassen erwirtschafteten Ertrag, um die Renten zu finanzieren.
Die berufliche Vorsorge funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Den Erwerbstätigen wird jeden Monat ein Teil des Lohns abgezogen und in die Pensionskasse eingezahlt. Der Arbeitgeber steuert ebenfalls einen monatlichen Beitrag bei. Die Altersrente richtet sich später nach der Höhe des eingezahlten Kapitals und der auf dem Ersparten erzielten Vermögenserträge.
Trotzdem behaupten die Pensionskassen immer wieder, die jüngere Generation müsse die Renten mitfinanzieren. Zum Beispiel im Abstimmungskampf im Jahr 2010, als sie die Renten senken wollten. Auch das Bundesamt für Sozialversicherungen bezifferte die angebliche Umverteilung damals auf 600 Millionen Franken pro Jahr – ohne das genauer zu begründen.
Inzwischen publiziert auch die Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge des Bundes beunruhigende Schätzungen: Ihr zufolge betrug die Umverteilung seit 2014 in jedem Jahr mindestens 5 Milliarden Franken. 2019 sollen es gar 7,2 Milliarden Franken gewesen sein.
Experte weist Mängel bei Schätzung des Bundes nach
Diese riesige Zahl veranlasste den Pensionsversicherungsexperten Jürg Jost, die Schätzung einer Analyse zu unterziehen. Sein Ergebnis: «Aus den Berechnungen und Annahmen der Kommission ergeben sich nicht nachvollziehbare und stark verzerrende Resultate.»
Jost benannte mehrere methodische Mängel – etwa bezüglich der Bewertung und Verbuchung angeblicher Verluste bei Pensionierungen und des Einflusses von Rückstellungen. Merzt man nur schon diese Fehler aus, reduziert sich die angebliche Umverteilung für 2019 von 7,2 auf nur noch rund 3 Milliarden Franken. Fazit von Jost: «Die Kommission sollte ihre Schätzmethode an die aktuellen Gegebenheiten anpassen und entsprechende Korrekturen vornehmen.»
Das hat sie indes nicht vor. «Die Überlegungen von Herrn Jost sind uns bekannt, wir teilen seine Meinungen jedoch nicht», schreibt die Aufsichtsbehörde auf Anfrage und bestreitet die Mängel an ihrer Schätzmethode.
Aufgrund der bisherigen Erfahrungen muss sie auch nicht befürchten, dass man ihr künftig genauer auf die Finger schaut: Fast alle Medien pflegen die Zahlen zur Umverteilung jeweils unhinterfragt zu veröffentlichen.
Dabei wäre es für die Versicherten wichtig zu wissen, wie diese Schätzungen zustande kommen: Die Kommission führt bei den Pensionskassen jährlich eine Umfrage zur finanziellen Lage durch. Sie analysiert also nicht etwa deren Bilanzen, sondern stützt sich auf die Selbstdeklaration der Kassen ab. Das räumt die Kommission selbst ein.
Die Pensionskassen stellen in der Bilanz für jeden Rentner zum Zeitpunkt seiner Pensionierung einen bestimmten Betrag zurück. Dazu nehmen sie das angesparte Altersguthaben des Versicherten und treffen eine Annahme, wie lange die Rente ausgezahlt werden muss. Zudem überlegen sie sich, wie viel Ertrag das von ihnen verwaltete Altersguthaben in der Zukunft abwerfen wird. Denn dieses nimmt im Lauf der Pensionierung nur langsam ab.
Rückstellungen basieren auf unrealistischen Annahmen
Die Höhe der Rückstellungen der Pensionskassen für die Rentner basiert also auf Annahmen zur Lebenserwartung und Erwartungen bezüglich der Rendite des Guthabens. Doch die getroffenen Annahmen sind unrealistisch, die Rückstellungen deshalb viel zu hoch. Aus den folgenden Gründen:
Erstens legen die Pensionskassen ihrer Berechnung eine zu hohe Lebenserwartung der Pensionierten zugrunde. Gemäss den aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik beträgt die restliche Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren bei den Frauen noch 22,7 und bei den Männern 20 Jahre. Der «K-Tipp» zeigte allerdings schon 2018 anhand der AHV-Zahlen für Rentenbezüger mit Schweizer Wohnsitz auf: Die Anzahl Jahre, in denen Pensionierte eine Rente bezogen, war stets ein bis zwei Jahre tiefer, als sie gemäss Lebenserwartung des Statistikamts hätte sein sollen («K-Tipp» 15/2018 und 16/2018). Die meisten Pensionskassen hingegen gehen sogar von noch höheren Lebenserwartungen aus als das Bundesamt.
Zweitens rechnen die Kassen mit einer sehr tiefen Rendite des Altersguthabens der Versicherten nach der Pensionierung. Aktuell beträgt der angenommene Zinsertrag, der sogenannte technische Zinssatz, im Durchschnitt nicht einmal 2 Prozent. In den vergangenen Jahren erzielten die Kassen jedoch meist viel höhere Erträge auf ihren Kapitalanlagen. Von 2009 bis 2019 betrugen ihre Nettorenditen durchschnittlich rund 5 Prozent pro Jahr.
Beides führt dazu, dass die Rückstellungen der Kassen für die Pensionierten viel höher sind als die Auszahlungen an die Rentner. Folge: Beim Tod eines Pensionierten bleibt oft Geld übrig. Diese Gewinne sind in den Bilanzen der Kassen unter den allgemeinen Reserven zu finden. Kein Wunder, wachsen Letztere von Jahr zu Jahr kräftig. Sie betrugen Ende 2019 fast 165 Milliarden («K-Tipp» 1/2021). Fazit: Es gibt in der 2. Säule eine Umverteilung. Aber nicht von den Jungen zu den Alten, sondern von den Versicherten zu den Pensionskassen.