Der junge Mann litt seit Wochen an einer Lungenentzündung. Gängige Antibiotika halfen nicht. Auf einer Reise nach Serbien waren antibiotikaresistente Bakterien in seinen Körper gelangt. Das Unispital Basel isolierte den Patienten – damit sich die Bakterien nicht weiterverbreiten.
Andreas Widmer, stellvertretender Chefarzt und Spitalhygieniker, untersuchte den Mann auf weitere Erreger. Manchmal reagieren resistente Erreger laut Widmer auf sehr hohe Dosen von Antibiotikakombinationen. Hilft keines der üblichen Antibiotika, greift Widmer zu einem Reserveantibiotikum. Es ist selten im Einsatz und sollte noch wirksam sein.
Bis zu 200 Todesfälle pro Jahr in der Schweiz
Genau solche Medikamente drohen Widmer und seinen Kollegen auszugehen. Denn die Zahl der Patienten, die an schweren Infektionen mit resistenten Erregern leiden, wächst. Die Gründe sind vielfältig.
Reinhard Zbinden, Professor für Mikrobiologie an der Uni Zürich, schätzt, dass in der Schweiz bis zu 200 Patienten pro Jahr an Infektionen mit resistenten Bakterien sterben. Weltweit sollen es 700 000 Todesfälle sein. Arme Länder mit schlechter Hygiene und Gesundheitsversorgung sind besonders betroffen. Für Widmer ist klar: «Wir brauchen dringend mehr neue Antibiotika, vor allem gegen multiresistente Keime.»
Pharmamulti ziehen sich aus Forschung zurück
Doch die Industrie liefert diese bisher kaum. Im Herbst stieg Roche sogar aus der klinischen Erprobung des neuen Antibiotikawirkstoffs POL7080 beim Unternehmen Polyphor in Allschwil BL aus. Roche erklärt, man bewerte das «Potenzial» des Präparats neu. Im Klartext: Der Konzern erwartet zu wenig Gewinn.
Per 1. April gibt die Novartis-Tochter Sandoz ihre Penicillin-Produktion in Frankfurt (D) auf. Eine Investorengruppe übernimmt das Werk. Novartis begründet den Rückzug mit dem «weltweiten Preiszerfall» der Antibiotikawirkstoffe. Im Jahr 2011 schloss der US-Konzern Pfizer seine Forschungsabteilung für Antibiotika in den USA. Roche, Aventis und Eli Lilly zogen sich bereits in den 1990er-Jahren zurück.
Seit 2010 kam laut Swissmedic nur ein einziges Antibiotikum mit einem neuen Wirkstoff auf den Schweizer Markt, von 2001 bis 2009 waren es acht Präparate (siehe Grafik). Inzwischen haben Roche, Sanofi oder GlaxoSmith-Kline die Antibiotikaforschung wieder etwas hochgefahren. Doch in der Pipeline ist nicht viel: 39 neue Antibiotika sind laut dem US-Institut PEW weltweit in der Entwicklung, viele davon richten sich nicht gegen die gefährlichsten Erreger. Es sind vor allem kleinere Firmen, die noch forschen.
Michael Altorfer, Chef der Basler Pharmafirma Polyphor, sagt: «Die Antibiotikaforschung ist mit einem überdurchschnittlichen unternehmerischen Risiko verknüpft. Es ist schwierig, eine neue Antibiotikaklasse zu finden.» Zudem sei die Preisgestaltung unsicher, weil schon lange keine neuen Antibiotikaklassen mehr auf den Markt gekommen seien.
Krebsmedikamente rentieren mehr
Für die österreichische Mikrobiologin Ursula Theuretzbacher ist das kein Wunder: «Antibiotika sind für die Industrie unattraktiv.» Sie kommen gegen die meisten Infektionen maximal sieben Tage zum Einsatz. Für die Wissenschafterin ist klar, dass die Hersteller mit Präparaten gegen Krebs, Hepatitis C oder Bluthochdruck viel mehr verdienen. Sie investieren daher in diese Sparten. Denn der Branche gehe es um Gewinnmaximierung.
Die Rechnung geht bislang auf: Die 2014 in der Schweiz verkauften Krebspräparate spülten den Herstellern laut der Krankenkasse Helsana 1,3 Milliarden Franken in die Kassen. Mit Antibiotika machten sie laut Interpharma im gleichen Jahr nur 127 Millionen Franken Umsatz.
Privatwirtschaft will mehr Subventionen
Der Mangel an Antibiotika offenbart ein Versagen der profitorientierten Medikamentenforschung: Denn die Menschheit braucht neue Antibiotika, um schwere Infektionen mit resistenten Erregern zu bekämpfen.
Nun soll es der Staat richten. Vertreter von 80 Pharmafirmen forderten auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum im Januar angesichts der «drastischen Zunahme» resistenter Bakterien mehr Subventionen für die Forschung und einen längeren Patentschutz für neue Wirkstoffe. Die EU stellte 2011 schon 250 Millionen Franken für ein Förderprogramm bereit. Laut Projektmitarbeiterin Theuretzbacher schuf man Anreize, um besonders nötige Antibiotikawirkstoffe zu entwickeln. Unterstützung gibt es für Unis und Firmen in allen Phasen der Entwicklung. Laut Theuretzbacher wird der Gewinn von den Verkaufszahlen abgekoppelt. Eine Pharmafirma, die ein Mittel entwickelt hat, erhält ihre Entwicklungskosten erstattet plus einen Profit.
«Übermässigen Einsatz reduzieren»
SP-Nationalrätin Bea Heim fordert, dass man die Antibiotikaforschung in der Schweiz ankurbelt: «Wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen.» Heim schwebt ein Forschungsfonds vor: Die Forschungsschwerpunkte soll ein Expertengremium des Bundes setzen. Nutzniesser wären Forscher an der ETH und den Unis sowie Firmen.
In den nächsten 10 bis 15 Jahren dürften dennoch nur wenige neue Antibiotika auf den Markt kommen. Die Medikamentenforschung ist langwierig. Das Bundesamt für Gesundheit formulierte daher 2015 als oberstes Ziel seiner Strategie gegen Antibiotikaresistenzen, den «übermässigen und teilweise unsachgemässen» Einsatz von Antibiotika bei Mensch und Tier zu reduzieren. Nur so lasse sich die Wirksamkeit der bestehenden Antibiotika erhalten.
Tierzüchter brauchen viel zu viel Antibiotika
Resistente Keime sind ein häufiges Mitbringsel von Reisen nach Indien oder Nepal. Sie lassen sich aber auch leicht in einem Spital in Griechenland oder Italien auflesen.
Solche Keime sind oft auf rohem Fleisch zu finden. Der Grund: Züchter und Bauern verwenden oft mehr Antibiotika als Ärzte in der Humanmedizin.
Auch viele Gewässer enthalten resistente Keime. Patienten können sich auch bei einer Operation damit infizieren. Viele Menschen tragen resistente Keime auf der Haut oder im Körper. Diese werden erst zum Problem, wenn sie über eine Wunde ins Körperinnere gelangen und dort eine Infektion auslösen. Die Keime lassen sich schlecht bekämpfen, weil sie gegen die meisten Antibiotika resistent sind (saldo 10/15).