Das Verdikt der Finanzmarktaufsicht (Finma) ist klar: «Manipulation des Schlusskurses.» Klar ist gemäss Behörde auch das Motiv der Manipulation: Es ging darum, «Gewinne zu maximieren».
Die Finma machte diesen Fall in anonymisierter Form öffentlich. Im Bericht heisst die Gesellschaft X. Das Wirtschaftsmagazin «Bilanz» hat den Schleier gelüftet. X ist die Firma Leonteq. Sie erfindet strukturierte Anlageprodukte.
Leonteq wirft pro Jahr über 10 000 Finanzprodukte auf den Markt. Dass dieses grosse Unternehmen Kurse manipulieren soll, wirft einen Schatten auf die ganze Branche. Jürg Stähelin, Geschäftsführer des Schweizerischen Verbands für Strukturierte Produkte, sagt: «Natürlich hilft es der Branche nicht, wenn das Marktverhalten eines der wichtigsten Player beanstandet wird.» Der Verband verurteile Marktmanipulationen. Es handle sich aber um einen Einzelfall.
Die Geschichte ist auch ein Problem für die Raiffeisen-Gruppe. Diese ist über die Bank Notenstein – sie gehört der Raiffeisen – mit 29 Prozent an Leonteq beteiligt. Mit Pierin Vincenz und Patrik Gisel ist sie mit dem früheren und dem aktuellen Raiffeisenchef im Verwaltungsrat von Leonteq vertreten. Die Raiffeisenbanken haben das manipulierte Anlageprodukt an ihre Kunden vermittelt – an wie viele sagt die Medienstelle von Raiffeisen nicht.
Zins nur fällig, wenn vier Aktien über dem Anfangskurs liegen
Das Produkt wurde unter dem Namen «Raiffeisen Express Zinspapier Aktien Schweiz CHF 10/2015» (ISIN: CH0115890706) vertrieben. Es kam im Oktober 2010 auf den Markt mit einer Laufzeit bis längstens Oktober 2015. Der Anleger hatte die Aussicht auf eine jährliche Zinszahlung von 4 Prozent – theoretisch. Tatsächlich liess er sich auf eine Wette ein, deren Ausgang von der Entwicklung von vier Aktien abhing: Novartis, Swisscom, Syngenta und Zurich. Kam der Wert auch nur eines dieser vier Titel an im Voraus bestimmten Tagen unter das Startniveau zu liegen, lief das Zinspapier ohne Zinsausschüttung ein Jahr weiter. Die Kassen sollten gemäss Vorgabe nur klingeln, wenn am Beobachtungstag im Oktober alle vier Aktien über dem Anfangswert zu liegen kamen. Für diesen Fall war vorgesehen, dass das Papier vorzeitig zurückgezahlt und pro Laufjahr 4 Prozent Zins ausgeschüttet würden. Bei der vollen Laufzeit von fünf Jahren wären somit 20 Prozent der Anlagesumme ausbezahlt worden.
Im Oktober 2011 lagen drei der vier Aktien unter dem Startniveau. Es kam zu keiner Zinszahlung. 2012 lag die Swisscom-Aktie darunter – wieder nichts.
«Zufällig» tauchte der Zurich-Kurs knapp unter die Limite
2013 sah alles nach Ausschüttung aus. Doch ausgerechnet am Beobachtungstag schrammte die Zurich-Aktie um ein paar Rappen unter die Limite. Die Anleger gingen wieder leer aus. Doch dieser Tag rief die Finma-Experten auf den Plan. Zu auffällig schien der plötzliche Taucher der Zurich-Aktie. Sie entdeckten die Kursmanipulation von Leonteq und bestraften das Unternehmen mit der Einziehung von 3,2 Millionen Franken Gewinn. Das Geld wanderte in die Bundeskasse – nicht an die geschädigten Anleger. Leonteq bestreitet die Marktmanipulation, hat die Verfügung der Finma aber akzeptiert.
Im Oktober 2014 lagen dann alle vier Aktien über dem Anfangsniveau. Es kam zur vorzeitigen Rückzahlung von 100 Prozent plus 16 Prozent Zins. Wer das Zinspapier im Oktober 2010 gekauft hatte, erwirtschaftete pro Jahr 4 Prozent Ertrag. Damit seien diese Anleger nicht zu Schaden gekommen, argumentieren Leonteq und Raiffeisen.
Einen Schaden können aber Anleger erlitten haben, die das Papier vorzeitig verkauften. Zur Zahl der Geschädigten heisst es bei Raiffeisen: «Die Zahl hält sich in engen Grenzen.» Man werde sie «kulant behandeln und entsprechend entschädigen». Laut Leonteq sind keine Entschädigungsforderungen eingetroffen. Die Finma verweist Geschädigte an die Zivilgerichte.
Eher Wette als Geldanlage
Das Zinspapier von Raiffeisen ist eher eine Wette als eine Geldanlage. Der in Aussicht gestellte Jahreszins von 4 Prozent ist nicht garantiert. Wenn es nicht zu einer vorzeitigen Rückzahlung kommt, erhält der Anleger nach fünf Jahren 101 Prozent seiner Investition zurück, also pro Jahr nur 0,2 Prozent Zins.
Gleichzeitig trägt er ein hohes Risiko. Er erleidet einen Totalverlust, wenn der Herausgeber des Zinspapiers zahlungsunfähig wird. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, wie 2008 der Bankrott der US-Bank Lehman Brothers gezeigt hat.