Offen debattiert wird erst auf den hinteren Seiten
Himmel und Hölle: Das erleben katholische und reformierte Leser bei der Lektüre ihrer Kirchenblätter. Fast nicht zu glauben, wie gross die journalistische Spannweite ist.
Inhalt
saldo 07/2012
07.04.2012
Letzte Aktualisierung:
10.04.2012
Rolf Hürzeler
Dieser Artikel ist das Zeitungspapier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde: Ein Porträt im Zürcher Kirchenboten «Reformiert» über den neu gewählten deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck enthält nichts Neues nach all den Berichten in der Tagespresse. Darüber vermag auch der überraschende Titel «Kaderschmiede Pfarrhaus» nicht hinwegzutäuschen. Denn der Artikel sagt dazu nur, dass Christoph Blocher und Moritz Leuenber...
Dieser Artikel ist das Zeitungspapier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde: Ein Porträt im Zürcher Kirchenboten «Reformiert» über den neu gewählten deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck enthält nichts Neues nach all den Berichten in der Tagespresse. Darüber vermag auch der überraschende Titel «Kaderschmiede Pfarrhaus» nicht hinwegzutäuschen. Denn der Artikel sagt dazu nur, dass Christoph Blocher und Moritz Leuenberger ebenfalls aus Pfarrhäusern stammen.
In derselben Ausgabe nimmt sich «Reformiert» des Themas «Talar» an. Auf den ersten Blick todlangweilig: Was will man darüber erfahren? Doch dann wird es interessant. Dem Leser wird die Geschichte der kirchlichen Amtstracht erzählt, und er liest, wie umstritten sie in reformierten Kreisen ist. Und man nimmt erstaunt zur Kenntnis, wie viel sie kostet, nämlich bis zu 2000 Franken. Ein Preis, zu dem sich in einer Modeboutique ein Designerstück erstehen lässt.
Kirchenblätter haben Auflagen wie sonst nur Gratiszeitungen
Ähnlich wie bei «Reformiert» geht es dem Leser bei der Lektüre der meisten andern deutschschweizerischen Kirchenblätter. Das zeigt eine Sichtung ausgewählter Ausgaben dieses Frühjahrs. Man findet billige Beiträge, die den Eindruck machen, dass sie lieblos in Spalten abgefüllt wurden. Daneben Überraschendes, das man in andern Zeitungen nicht findet. Es kann sich also für Mitglieder der beiden grossen Landeskirchen lohnen, einen Blick in diese Zeitungen zu werfen. Die Publikationen erreichen hohe Auflagen – wie andere Gratisblätter auch. Alle Mitglieder der Landeskirchen erhalten ein Blatt, wenn sie nicht ausdrücklich darauf verzichten wollen:
n «Reformiert» hat eine Auflage von 720 000 Exemplaren, der «Kirchenbote» von 160 000. Diese beiden Blätter erscheinen im Verbundsystem mit Austauschseiten der Kantonalkirchen. «Reformiert» etwa in Zürich und Bern, der «Kirchenbote» in der Nordwest- und Innerschweiz. Nicht dabei sind St. Gallen, Thurgau und Appenzell Ausserrhoden mit je eigenen Publikationen.
n Die katholischen Pfarreiblätter mit über 740 000 Exemplaren Auflage erscheinen unter verschiedenen Namen, zum Beispiel als «Forum» in den Kantonen Zürich, Schaffhausen und Thurgau. Oder als «Horizonte» im Kanton Aargau oder als «Pfarreiblatt »in der Innerschweiz. Die Redaktionen sind voneinander unabhängig, arbeiten aber eng zusammen.
Die Katholiken setzen auf den ersten Blick hauptsächlich auf die Verkündigung. Auf der Titelseite des katholischen Zuger «Pfarreiblatts» etwa steht «ein Gebet von unbekannt». Wer sich davon nicht angesprochen fühlt, sollte sich aber nicht abschrecken lassen. Denn im Blatt findet sich Lesenswertes wie ein Artikel über «Land Grabbing», in dem es um die Landverteilung auf Kosten afrikanischer Bauern geht. Der Artikel ist nüchtern und unpolemisch geschrieben. Er stammt aus der Redaktion von Kipa, dem katholischen Mediendienst, auf den die Pfarrblätter oft zurückgreifen.
Kontroverse Themen fehlten in den katholischen Blättern – aber nur auf den ersten Blick. Typisch das Beispiel in «Kirche heute», dem katholischen Pfarreiblatt der Nordwestschweiz. Auf der Titelseite geht es um den angeblichen Wandel der Volkskirche von der sogenannten «Angebots-kirche» zur «Zeugniskirche», die ein grösseres Engagement des Gläubigen erfordere.
Man fragt sich, ob dieses Thema ausser den Theologen jemanden interessiert. Wer dann zwanzig Seiten weiterblättert, findet unter dem Titel «Schlaglicht» einen Beitrag des Informationsbeauftragten der römisch-katholischen Kirche Basel-Stadt zum Hirtenbrief des Churer Bischofs Vitus Huonder, wonach wiederverheiratete Geschiedene die Sakramente nicht mehr empfangen dürften: «Hirtenbriefe wie der Fastenhirtenbrief des Bischofs von Chur beschädigen die Glaubwürdigkeit der Kirche massiv», schreibt dort der Informationsbeauftragte klipp und klar.
In «Kirche heute» liegen Höhen und Tiefen nahe beieinander
Auf der gleichen Seite wird deutlich, weshalb diese eindeutige Stellungnahme nötig ist. Der Informationsbeauftragte zeichnet auf, wie dramatisch die Lage der Katholiken ist. Titel des Beitrags: «Der Trend zum Kirchenaustritt hält an.» Da erfährt man, dass die katholische Kirche in der Stadt Basel seit 1992 fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren hat. Offenkundig ist in den Pfarrblättern ein offener Diskurs möglich – auch wenn er diskret auf den hinteren Seiten geführt wird und nicht auf der Titelseite.
In der gleichen Ausgabe von «Kirche heute» sind die Höhen und Tiefen besonders nah beieinander. So entdeckt man einen Artikel über Bar Mitzwa und Bat Mitzwa, also über die jüdische Firmung von Knaben und Mädchen. Aber die Geschichte bleibt zu oberflächlich. Bis zum Schluss erfährt der Leser wenig über den tatsächlichen Stellenwert dieses Festes im Judentum und der unterschiedlichen Gewichtung bei Orthodoxen oder Liberalen.
«Kirchenbote» hat am meisten politisch Relevantes
Am besten hat der reformierte «Kirchenbote» der Nordwest- und Innerschweiz in dieser Auswahl gefallen. Diese Zeitung ist wie «Reformiert» ansprechend gestaltet. Und das Blatt ist politisch relevant. Dazu gehört ein Interview mit dem Befreiungstheologen Ernesto Cardenal, in dem dieser eine striktere Kontrolle globaler Konzerne verlangt.
Spannend ist auch die Doppelseite über Behinderte, mit einem Hauptartikel über Fragen, die sich ihnen bei der Berufswahl stellen. Und man trifft im reformierten Blatt mit Amüsement auf einen Text des katholischen Theologen und Ex-«Blick»-Chefredaktors Werner de Schepper, der bekanntlich Oltner Stadtpräsident werden will. Er philosophiert über das treffliche Thema «Vom Lohn im Himmelreich».
Anscheinend ist der «Kirchenbote» ein geeignetes Vehikel, um den Wahlkampf zu fördern. Schliesslich zählt für den Katholiken bei der Wahl auch jede reformierte Stimme.