Die 75-jährige Frau stützt das Gesicht in die Hände. Die Erinnerungen an den Vorfall gehen ihr immer noch nah – obwohl er sieben Jahre zurückliegt: Damals fuhr sie mit dem Velo auf den Vorplatz eines Einfamilienhauses. Der nicht angeleinte Hund der Bewohner rannte auf sie zu und biss sie. Nun sitzt die Frau neben ihrem Anwalt im Gerichtssaal des Bezirksgerichts Baden. Sie verlangt vom Hundehalter 155 000 Franken Schadenersatz und Genugtuung. Auch der Beklagte ist in Begleitung eines Anwalts erschienen.
Das Gericht – fünf ältere Richter und eine junge Gerichtsschreiberin – befragt als Erstes einen Nachbarn als Zeugen. Er schildert die Situation am «Tatort»: Der Vorplatz zum Haus sei nicht eingezäunt. Ein Schild warne vor dem Hund. Er selbst sei häufig über den Vorplatz gegangen und hätte nie Probleme mit dem frei herumlaufenden Hund gehabt.
Der Hund biss in die Wade, ins Handgelenk und hörte nicht auf
Nach dem Zeugen befragt das Gericht das Opfer. Die Frau erzählt in ruhigem Ton, sie sei an jenem warmen Herbstabend in Sommerkleidern auf dem Velo zum Einfamilienhaus gefahren. Sie wollte für die Pro Senectute Geld sammeln. Als der Hund auf dem Vorplatz laut gebellt habe, sei sie abgestiegen. Daraufhin habe der Hund sie ins Handgelenk und in die Wade gebissen. «Immer wieder biss er zu. Ich schrie und dachte: Hört das denn niemals auf?», beschreibt die Frau das Erlebnis. Dann endlich sei der Hundebesitzer aus dem Haus gerannt und habe seinen Hund zurückgepfiffen. Dieser habe sofort von ihr abgelassen. Der Hundebesitzer habe nach einem Blick auf die Wunden gesagt: «Sofort ins Spital!», und habe sie auch dahin gefahren. Sie selbst sei unter Schock gestanden.
Der Hundehalter bestätigt die Schilderung der Klägerin: Er sei gerade beim Znacht gewesen, als der Vorfall passierte. Sein Hund Vasco sei regelmässig frei auf dem Hausplatz herumgelaufen. Vasco sei ein Jagdhund und dafür intensiv ausgebildet gewesen: «Bei dieser Erziehung hätte nichts passieren dürfen», meint der Hundehalter. Als reiner Fährtensucher sei Vasco darauf trainiert gewesen, die gefundenen toten oder verletzten Tiere nicht zu beissen.
Die Beissattacke auf die ältere Frau sei unverständlich: Entweder sei etwas Besonderes passiert, oder der Hund sei krank gewesen. Seine Konsequenz: «Zwei Tage später liess ich den Hund einschläfern. Ich konnte ihm nicht mehr trauen.»
Auf Privatgrundstücken darf ein ruhiger Hund frei herumlaufen
Nach der Befragung der Parteien halten die beiden Anwälte ihre Plädoyers. Der Anwalt der Klägerin verweist auf die gesetzliche Haftpflicht des Tierhalters: «Es geht nicht darum, dem Halter einen Fehler vorzuwerfen», erklärt er. Der Hund habe aber einen Schaden angerichtet, dafür müsse der Halter nun aufkommen.
Dessen Anwalt argumentiert, der Hundebesitzer habe die nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet. Es könne ihm aus dem Geschehen deshalb kein Vorwurf gemacht werden. Laut Gesetz hafte der Tierhalter in solchen Fällen nicht.
Sechs Monate später verschickt das Gericht das schriftliche Urteil. Es gibt dem Hundehalter Recht. Hunde der Rasse «Deutsch-Langhaar» seien folgsam, nervenfest mit ruhigem, ausgeglichenem Wesen. Sie gälten als anhänglich, friedlich, lernbegierig und gezügelt. Die Rasse gehöre nicht zu den Hunden mit erhöhtem Gefährdungspotenzial. Sowohl der Tierarzt als auch die Hundeinstruktorin hatten dem Gericht bestätigt, dass Vasco vor dem Vorfall nie verhaltensauffällig gewesen sei. Beissvorfälle waren keine bekannt.
Gemäss dem Gericht bestand deshalb für den Halter kein Anlass, seinen Hund besonders gut zu beaufsichtigen oder einzusperren. Den auf einem Privatgrundstück frei herumlaufenden Hund müsse man nicht stets beaufsichtigen. Das sei den Besitzern bei einem gutartigen Hund nicht zumutbar. Das Anketten sei bei einem solchen Tier ebenfalls nicht angezeigt. Der Hundehalter habe seine Sorgfaltspflichten nicht verletzt und hafte deshalb nicht.
Das Gericht weist die Klage der Frau ab. Sie muss die Gerichtskosten in der Höhe von 9810 Franken übernehmen. Zudem hat sie dem Hundehalter rund 15 000 Franken für seine Anwaltskosten zu bezahlen.
Eine Teilklage senkt das Prozessrisiko
Die Höhe der Gerichtskosten richtet sich nach dem Streitwert. Auch der Betrag, den die unterliegende Partei der Gegenseite für Anwaltskosten entrichten muss, ist von der eingeklagten Summe abhängig. Es ist deshalb vorteilhaft, zuerst nur einen Teil des Schadens einzuklagen, wenn unter den Parteien grundsätzlich strittig ist, ob die beklagte Partei überhaupt haftbar ist.
Das Gericht wird bei der Beurteilung der Teilklage die Frage der Haftung klären müssen. Wird die Klage abgelehnt, sind die Kosten weit tiefer als bei einer Forderung auf vollen Schadenersatz. Wird die Klage gutgeheissen, kann die verbleibende Restsumme eingeklagt werden. Bei diesem Vorgehen ist darauf zu achten, dass die Restsumme nicht verjährt.