«Die Wolke zieht vorbei»
Viele beruhigende Worte, aber nichts Konkretes zu den Evakuierungsplänen: 1,2 Millionen Schweizer, die in der Umgebung von AKW leben, haben zwei Info-Broschüren erhalten, die keine Hilfe bieten.
Inhalt
K-Tipp 04/2012
19.02.2012
Letzte Aktualisierung:
21.02.2012
Marco Diener
Vor sieben Jahren haben 1,2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer eine Packung mit Medikamenten zugestellt bekommen. Inhalt: Kaliumjodid-Tabletten. Sie sollen bei einem AKW-Unfall vor Schilddrüsenkrebs schützen. Als Empfänger ausgewählt wurden alle Personen, die im Umkreis von 20 Kilometern um die Atomkraftwerke Beznau I und II, Gösgen, Leibstadt und Mühleberg wohnen. Dazu gehören zum Beispiel die Städte Bern, Biel und Freiburg, Aarau, Baden und W...
Vor sieben Jahren haben 1,2 Millionen Schweizerinnen und Schweizer eine Packung mit Medikamenten zugestellt bekommen. Inhalt: Kaliumjodid-Tabletten. Sie sollen bei einem AKW-Unfall vor Schilddrüsenkrebs schützen. Als Empfänger ausgewählt wurden alle Personen, die im Umkreis von 20 Kilometern um die Atomkraftwerke Beznau I und II, Gösgen, Leibstadt und Mühleberg wohnen. Dazu gehören zum Beispiel die Städte Bern, Biel und Freiburg, Aarau, Baden und Wettingen.
Auf die Beruhigungspillen von damals folgten Anfang Februar dieses Jahres zwei neue Broschüren:
- Die «Checkliste zum richtigen Verhalten» enthält für den Fall eines AKW-Unfalls Ratschläge wie «Radio hören», «den bestgeschützten Raum im Gebäude wählen», «Spielzeug für die Kinder mitnehmen», «Lüftungen und Klimaanlagen ausschalten», «Jodtabletten einnehmen». Und zur Beruhigung folgt der Hinweis: «Die Dauer des Aufenthalts im Haus, Keller oder Schutzraum ist relativ kurz.»
- Beruhigen soll wohl auch die zweite Broschüre. Ihr Titel: «Hintergrundinformationen zu Schutzmassnahmen.» Der Leser erfährt zunächst, wie sicher die Schweizer AKW angeblich sind. Ganz ausschliessen mögen die Verantwortlichen einen «Ereignisfall» – wie sie einen AKW-Unfall nennen – aber doch nicht. Deshalb liefern sie auch ein paar Informationen darüber, wie Radioaktivität wirkt. Aber immer geht es nur um «eine vorbeiziehende radioaktive Wolke». Doch was, wenn die Wolke stationär ist? Von einer Evakuierung ist erst ganz am Schluss der 20-seitigen Broschüre kurz die Rede: «Die Behörden ordnen die bei einer Evakuierung zu treffenden Massnahmen an.»
Der Haken: Die Behörden wissen gar nicht, was sie anordnen sollen. Denn in der Schweiz existieren keine Evakuierungsspläne.
«Ein ziemliches Durcheinander»
Vor einem Jahr, nach der Katastrophe von Fukushima, hatte Willi Scholl, Chef des Bundesamts für Bevölkerungsschutz, gegenüber dem «Tages-Anzeiger» gesagt, sein Amt arbeite zusammen mit der ETH Zürich an Evakuierungsplänen. Bis es so weit sei, müsse man damit rechnen, dass «es ein ziemliches Durcheinander gäbe».
Evakuierungspläne lassen auf sich warten
Denn die Sache ist komplex. Je nach Wochentag, Tageszeit und Zustand der Verkehrswege ist das Vorgehen anders. Trotzdem stellte Stoll damals in Aussicht: «Detaillierte Pläne folgen in nächster Zeit.» Doch heute, ein Jahr später, fehlen sie noch immer. «Wir sind noch nicht so weit, wie wir sein sollten», erklärt er.
Und sein Mediensprecher Kurt Münger ergänzt: «In einem Forschungsprojekt werden mit Hilfe von Computermodellen Evakuierungen simuliert. Mit Hilfe von soziologischen Methoden wird dabei auch das Verhalten der Bevölkerung im Evakuierungsfall modelliert.» Münger verspricht zwar, dass «wesentliche Ergebnisse noch in diesem Jahr» vorliegen würden. Doch dann müssen die Konzepte «überprüft bzw. weiterentwickelt oder auch neu erarbeitet werden». Das heisst: Es wird nochmals dauern.
Übrigens: Die Erarbeitung der beiden Broschüren dauerte drei Jahre und kostete 2,5 Millionen Franken. Bezahlt werden sie wie schon die Jodtabletten von den AKW-Betreibern.